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       # taz.de -- Ideologie und Pragmatismus: Nicht wer, sondern was man tut
       
       > Bei politischen Entscheidungen spielen Überzeugungen nicht immer eine
       > Rolle. Wichtig ist, dass am Ende das Ergebnis stimmt.
       
       Neulich in der Eisdiele ist mir mal wieder aufgefallen: Ich hasse
       Ideologien, wirklich. [1][Kommunismus], [2][Antisemitismus],
       Poststrukturalismus und all die anderen zusammengezimmerten Konstrukte von
       schönen oder hässlichen Ideen, die zwangsläufig irgendwann unter ihrem
       eigenen Gewicht oder einfach genauerer Betrachtung zusammenkrachen. Dann
       lieber try, error, repeat.
       
       Wenn’s aber um meine Tochter geht, hab ich inkonsequenterweise eine Menge
       schöner Ideen. Kein Zucker, kein Fernsehen (sie), kein Schimpfen (ich).
       Mein Freund hat nur eine Maxime, wenn es um sie geht: Hauptsache, sie ist
       glücklich.
       
       Meistens treffen wir – er, der Israeli, und ich, die Deutsche – uns mit
       unseren Ansätzen auf demselben Weg wieder, aber wenn’s mal nicht so ist,
       wie bei der Frage „Ist Schokoeis vor dem ersten Geburtstag wirklich eine
       gute Idee?“, dann nagt etwas Unheimliches in mir. Lauern da schimmlige
       Überreste einer schwarzen, preußischen Erziehungsideologie in mir?
       
       Zum Glück verabschieden sich die Ideologien immerhin aus der Sphäre der
       Politik so langsam (auch wenn das leider noch nicht durch die Mauern des
       Kreml gedrungen ist), genauso wie die Macht aus der Sphäre der Erziehung.
       Wobei natürlich schon das Wort Erziehung heute falsch ist. Niemand, der bei
       Verstand ist, erzieht seine Kinder heute noch. Die meisten bauen zum Glück
       inzwischen einfach eine Beziehung zu ihren Kindern auf, wie man das mit
       geliebten Menschen halt macht.
       
       Ein schönes Beispiel dafür, wie baufällig Ideologien sind, wenn’s um Macht
       geht, ist gerade in Israel zu beobachten. Da stimmt die politische Rechte
       gegen die Fortführung eines ihrer über Jahrzehnte gepflegten Projekte: die
       Siedlerbewegung. Sprich: gegen ihre eigene politische Überzeugung. Warum?
       Um die aktuelle Regierung zu stürzen und selbst wieder an die Macht zu
       kommen. Kurz: Die [3][Siedler könnten tatsächlich ihre besonderen
       Privilegien verlieren] und wären, wenn’s denn so weit käme, ihren
       palästinensischen Nachbarn rechtlich gleichgestellt.
       
       Damit könnte die Opposition um Bibi, also den konservativen
       Ex-Regierungschef Benjamin Netanjahu, der sich nach gerade einjähriger
       Auszeit schon wieder in Stellung bringt, am Ende – Ideologie beiseite –
       vielleicht mehr für den Frieden tun als viele tatsächlich an einer
       Zweistaatenlösung Interessierte. Zumindest theoretisch.
       
       ## Ein paar Entbehrungen
       
       Klar, das Beispiel ist ein bisschen extrem, eine absurde Drehung zu viel,
       aber das Naserümpfen gerade vieler Linker über falsche oder fehlende Motive
       hinter eigentlich lobenswerten Taten nervt auch nicht wenig. Hand aufs
       Herz: Ist Ihnen ein CSUler, der aus wahltaktischen Gründen [4][Windkraft
       fördert], nicht lieber als einer, der seiner wirtschaftsliberalen Gesinnung
       treu bleibt? Oder eine Kanzlerin, die gegen ihre Überzeugung einen
       Atomausstieg beschließt, weil die Mehrheit das will?
       
       Auch wenn die Rechnung nicht recht aufging, weil sie die Erneuerbaren viel
       zu wenig, die Abhängigkeit von russischem Gas hingegen zu stark gefördert
       hat. Das kann man [5][Angela Merkel], frisch zurück auf der Diskursbühne,
       zu Recht vorwerfen, logisch. Macht und die richtige – also die
       links-sozial-ökologische – Haltung fallen nicht immer in dieselben Hände.
       
       Und andersherum wird, „nur weil die Richtigen regieren, nicht gleich
       richtig regiert“; wie [6][Luisa Neubauer diese Woche in der Zeit ]
       feststellte. Sonst würde der ideologisch motivierte Krieg Putins mit einem
       Embargo bekämpft, einer Abkehr von fossilen Energien insgesamt und damit –
       zwei Fliegen auf einen Streich – auch der Kampf gegen die Erderwärmung
       vorangetrieben.
       
       Die Frage ist halt immer, wie viel Unannehmlichkeiten man in Kauf zu nehmen
       bereit ist. Ehrlich gesagt: Das schokoverschmierte Strahlen meiner Tochter
       ist mir den abendlichen Kampf mit ihr und der Zahnbürste allemal wert. Und
       wie wahrscheinlich die meisten Eltern bin ich übrigens zäh genug, für einen
       Mindestlohn, das Überleben des Planeten, das ukrainischer Kinder sowie des
       eigenen Nachwuchses ein paar Entbehrungen in Kauf zu nehmen.
       
       13 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.freitag.de/autoren/lfb/elisa-aseva-hat-recht-wir-brauchen-den-kommunismus
   DIR [2] https://www.dw.com/de/antisemitismus-in-zeiten-des-ukraine-kriegs/a-62067811
   DIR [3] /SiedlerInnen-in-Israel/!5856682
   DIR [4] https://www.br.de/nachrichten/bayern/aiwanger-werden-am-ausbau-der-windenergie-nicht-vorbeikommen,T6sgrWa
   DIR [5] /Ex-Kanzlerin-gesteht-kaum-Fehler-ein/!5860004
   DIR [6] https://www.zeit.de/2022/24/gruene-klimapolitik-ernergie-oel-luisa-neubauer?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ariane Lemme
       
       ## TAGS
       
   DIR Kolumne Der rote Faden
   DIR Schwerpunkt Angela Merkel
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