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       # taz.de -- Überlebender über „Grenfell Tower“-Brand: „Erinnern an das Trauma ist wichtig“
       
       > Fünf Jahre nach dem Tod von 72 Bewohnern des Hochhauses in London hält
       > eine Initiative das Gedenken wach. Ed Daffarn hat das Feuer überlebt.
       
   IMG Bild: Der brennende Grenfell Tower in London am 14. Juni 2017
       
       In einer Anfangsszene des Dokumentardramas „Dictating the Estate“ von
       Nathaniel McBride erzählt Ed Daffarn, dargestellt von dem Schauspieler Jon
       Foster, wie er den [1][Brand im Londoner Grenfell Tower] am 14. Juni 2017
       überlebte. Um 1 Uhr morgens hört er den Rauchmelder seines Nachbarn, dann
       Geräusche aus dem Hausflur. Als er die Tür aufmacht, tritt dichter Rauch in
       seine Wohnung. Zugleich ruft ihn der Nachbar an und schreit durch das
       Telefon: „Raus, raus!“ Mit Schlüssel und Telefon, ein nasses Handtuch ums
       Gesicht, macht sich Daffarn auf seinen Weg aus seiner Wohnung im 16. Stock.
       Ein Feuerwehrmann sieht ihn und bedeutet ihm, auf dem Boden zu kriechen –
       da ist der Rauch etwas dünner. Über die Treppe schafft es Daffarn bis ins
       Erdgeschoss. Er überlebt, aber 70 Hochhausbewohner kommen in den Flammen
       um, zwei weitere sterben später im Krankenhaus. 
       
       taz: Herr Daffarn, in dem Theaterstück über das Grenfell-Feuer, „Dictating
       the Estate“, erlebt man Sie als eine der Hauptfiguren, wie Sie das Feuer
       überleben. Was ist das für ein Gefühl, sich selbst auf der Bühne zu sehen? 
       
       Ed Daffarn: Es war seltsam und surreal. Ich sah die erste Aufführung in
       London, kurz bevor ich nach New York reiste. Dieser Status, eine Art Star
       zu sein – ich empfinde das als pervers, denn es ist eine Folge von etwas
       sehr Gewaltsamem und Schrecklichem. Es gibt mir ein seltsames Gefühl.
       
       Am Dienstag ist das Feuer im Grenfell Tower fünf Jahre her. Wie blicken Sie
       darauf zurück? 
       
       Der Jahrestag bezieht sich auf die Erinnerung an die 72 Menschenleben, die
       wir verloren haben. Sie sind in diesem Gebäude ermordet worden. Es war eine
       wundervolle Gemeinschaft. Wenn sie als „arm“ beschrieben wird, macht es
       mich wütend. Wir waren gar nicht arm. Wir mögen nicht viel Geld gehabt
       haben, aber wir waren reich an Diversität und Sprachgewandtheit. Es waren
       Menschen vieler ethnischer Hintergründe, sozial wie auch wirtschaftlich
       vielschichtig. Manche hatten ihre Wohnung gekauft, wir hatten sogar Banker
       und Sozialarbeiter und Lehrer. Es waren Menschen im fünftreichsten Land auf
       der Erde im 21. Jahrhundert in einer der großen europäischen Hauptstädte.
       Wir hatten einen großartigen Gemeinschaftssinn. Man hätte auf diese
       Community im Tower stolz sein können, wie divers, reich, eloquent und
       ermächtigt sie da stand – etwas, was man feiern kann. Aber genau das
       geschah nicht. Nach dem Brand wurden wir verschmäht und als Abschaum und
       Unterschicht beschrieben. Deshalb ist die Erinnerung an die 72 verlorenen
       Leben und das Trauma und die Gewalt dieser Nacht wichtig.
       
       Was bedeutet der fünfte Jahrestag für Sie? 
       
       Grenfell zeigte die Menschheit von ihrer besten und ihrer schlimmsten
       Seite. In den Tagen nach dem Feuer kamen andere Menschen von nah und fern,
       um uns zu helfen. In Tausenden E-Mails wurde uns Hilfe, eine Unterkunft
       oder ein Telefon angeboten. In diesem Sinne ist der fünfte Jahrestag auch
       eine Gelegenheit, uns nochmal zu bedanken. All das jedoch mit Vorbehalt,
       wenn so viel ungelöst bleibt und sich so wenig geändert hat. Grenfell
       United, die Organisation der Angehörigen und Überlebenden, fordert die
       Wahrheit, und wir hoffen, dass die öffentliche Anhörung dies erreichen
       kann. Es ist außerdem absolut unerlässlich, dass Menschen dafür hinter
       Gitter kommen.
       
       Bisher wurde niemand angeklagt, obwohl es eine öffentliche Untersuchung
       gibt? 
       
       Ja, und bis der [2][Untersuchungsbericht] veröffentlicht ist, wird dies
       nicht geschehen. Neben Wahrheit und Gerechtigkeit geht es aber auch um das
       Vermächtnis. Immer noch schlafen in Tausenden Haushalten Menschen in
       Gebäuden mit der gleichen Außenverkleidung wie Grenfell. Menschen mit
       Behinderung befinden sich immer noch in genau der gleichen Gefahr. Menschen
       in Sozialwohnungen werden ebenfalls immer noch so behandelt wie wir damals.
       Es ist eine Schande, dass nicht auf die Stimme Grenfell gehört wurde.
       
       Sie haben in der öffentlichen Anhörung gesagt, eines der grundlegenden
       Probleme war, dass die Behörde den Menschen nicht mit Würde begegnete. 
       
       Die Schuld ist groß. Wäre Menschlichkeit durch Stadtbehörde und Vermieter
       genug gewesen, um Einwände zu erheben, als das Material für die neue
       Außenfassade von dem Renovierungsunternehmen gegen ein billigeres
       ausgetauscht wurde, um Geld zu sparen? Die Unterlagen darüber wurden uns
       vorenthalten. Man hatte uns jegliche Information verwehrt. Wir trafen die
       Entscheidung nicht. Wir hatten keine Ahnung, dass man plötzlich statt Zink
       brennbares Material benutzte. Respekt gab es keinen. Im Grunde ist es ganz
       simpel: Entweder man tut Dinge für Menschen ohne ihr Mitwissen oder man
       macht Dinge gemeinsam mit den Menschen. Ob Letzteres Grenfell verhindert
       hätte, kann ich nicht beurteilen. Aber es geht nicht, Menschen nicht mit
       Respekt zu behandeln.
       
       Wie geht es Ihnen persönlich fünf Jahre nach dem Brand? 
       
       Ich mache Fortschritte, aber es ist nicht so, als ob wir etwas erreicht
       hätten. Die Politiker und Personen mit Macht haben unsere Erwartungen nicht
       erfüllt. Das macht mich wütend und traurig zugleich. Man sollte Menschen
       nicht Jahre warten lassen, um sie anzuhören und die Wahrheit zu sagen.
       
       14 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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