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       # taz.de -- Fotografien von Hansgert Lambers: Die Überraschung des Gewöhnlichen
       
       > Hansgert Lambers war Ingenieur und Fotoamateur. Seine Aufnahmen
       > verdichten die Zeit. Das Haus am Kleistpark in Berlin zeigt eine
       > Retrospektive.
       
   IMG Bild: Ausschnitt aus Hansgert Lambers, West-Berlin, Schöneberg, Albertstraße 1958
       
       Der Fotograf Hansgert Lambers ist eine Entdeckung, und ebenso sind es seine
       Schwarzweiß-Aufnahmen mit dem Zauber der wiedergefundenen Zeit. „Verweilter
       Augenblick“, der Titel seiner Retrospektive [1][im Haus am Kleistpark], ist
       vom Kurator Matthias Reichelt gut gesetzt.
       
       Da stehen in einer Aufnahme zwei kleine Hunde im offenen Fenster. Neugierig
       schauen sie im Gleichklang in die Welt und auf den Fotografen. An der Wand
       unter ihnen ist ein „Roller-, Fahrrad-Verleih“ annonciert. Nur schaut die
       Typo so merkwürdig nach frühem, ein bisschen vergurktem Pop aus, der Putz
       an der Wand blättert ab wie die Farbe am Kellerfenster darunter: Das ist
       nicht heute, das ist gestern.
       
       Ja, das ist „West-Berlin, Kreuzberg, Möckernstraße, 1972“, wie die
       Bildunterschrift besagt – und wie man selbst beschwören würde, es zu
       kennen. Was lustig ist, hat man doch nie in West-Berlin gelebt.Durch die
       Staffelung von Fenster, Wand, Fenster sind die Hunde wie auf ein Piedestal
       gestellt, der Raum ist rhythmisch gegliedert, die Aufnahme von großer
       formaler Perfektion. Man fühlt sich in die Wunderwelt eines [2][Henri
       Cartier-Bresson] versetzt, in der man – fotografisch, medial wohl
       instruiert und sozialisiert – ganz fraglos zu Hause ist, egal woher in
       dieser Welt seine Aufnahme stammt.
       
       ## Aus Liebe zum Medium
       
       Man fragt sich also, salopp formuliert, warum hatte man diesen Fotografen
       nie auf dem Schirm? Trotz zahlreicher fotografischer Aktivitäten, sei es
       als Kurator und Ausstellungsmacher, sei es als Verleger, der in seinem 1986
       gegründeten [3][ex pose verlag] bislang rund 80 Bildbände mit
       zeitgenössischer Autorenfotografie veröffentlichte?
       
       Aber Hansgert Lambers, 1937 in Berlin geboren, arbeitete eben nie als
       Fotograf. Nach einem Ingenieurstudium war er von 1965 bis 1993 als
       Systemberater für IBM unterwegs. Tatsächlich ist er Fotoamateur, Fotograf
       aus Leidenschaft und Liebe zum Medium. Frei von Erfolgsdruck musste er
       weder veröffentlichen noch ausstellen; er konnte es aber und tat es auch.
       In Fotografenkreisen ist er daher durchaus bekannt und anerkannt.
       
       Sein Job brachte es mit sich, dass er viel reiste, auch in die Länder
       hinter dem Eisernen Vorhang, wie man damals sagte, ebenso nach Italien oder
       England. Und so trifft man 1984 in Bologna auf eine hinreißende
       Fahrradfahrerin, die vor einem Schaufenster haltgemacht hat, allerdings
       schaut sie nicht in die Auslage, sondern hinter sich zurück, zum Fotografen
       beziehungsweise zur Betrachterin.
       
       Ein Blick, den der Ausstellungskurator nutzt, um mit dem groß aufgezogenen
       Bild eine Verbindung in den gegenüberliegenden Raum zu schaffen, wo wir,
       dem Blick folgend, wieder auf eine attraktive Frauenfigur treffen.
       Allerdings ist sie gezeichnet, ein Werbedisplay für Bild, das 1959 das Dach
       eines Kiosks an der Crellestraße ziert.
       
       ## Der Pudel und das Hakenkreuz
       
       In Wien fällt zunächst der putzige kleine weiße Pudel in einem Ladeneingang
       auf, der etwas auf der Straße sieht – und wie wir noch den Hund betrachten,
       entdecken wir im rechten Augenwinkel den Teller im Schaufenster, der mit
       seiner Rückseite präsentiert ist, weil darauf als Signet der Reichsadler
       mit Hakenkreuz prangt. Das Foto ist von 1973!
       
       Die Stadt in ihrer ganz banalen Alltäglichkeit, gleichgültig ob Wien oder
       Paris, Prag oder Budapest, bietet Lambers immer die Überraschung des
       Gewöhnlichen, den Augenblick, in dem eine andere, oft nicht restlos zu
       klärende Erzählung aufscheint.
       
       Was etwa geht der blonden Frau im schicken Business-Outfit durch den Kopf?
       So wie sie in Stockholm 1981 mit geschlossen Augen an der Wand neben einer
       Garage lehnt, das Gesicht der Sonne zugewandt, eine Szene wie ein Gemälde
       von Edward Hopper.
       
       Tatsächlich verweilt Lambers gern bei dem im Raum vereinzelten, bisweilen
       verlorenen Menschen. Wie bei der Frau, die aus dem einsamen Fenster schaut,
       das in die enorme, bildfüllende Fläche der Brandmauer gesetzt ist. Trotz
       seines schlichten Sujets ist „West-Berlin, Schöneberg, Albertstraße, 1958“
       fotografisch großes Theater, mit der Ziegelmauer, die zur Hälfte weiß
       gekalkt ist, wodurch das Bild geteilt wird. Das betont die Straßenlaterne,
       die leicht verschoben, parallel zur Kante von Farbe und Backstein steht.
       
       Und dann das rätselhafteste, gleichzeitig symbolträchtigste Bild der
       Ausstellung: der hagere Mann in Arbeitsuniform und Käppi auf dem Kopf, der
       in einer menschenleeren Umgebung mit grimmiger Miene aus einem
       Straßenschacht steigt. Die Szene wirkt an sich unheimlich, eher wie ein
       Filmstill. Sie erscheint aber erst recht verstörend und der Mann wie eine
       Art Wiedergänger aus der Vergangenheit, liest man die Bildunterschrift
       „Gedenkstätte KZ Auschwitz, Polen 1997“.
       
       18 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.hausamkleistpark.de/
   DIR [2] /Cartier-Bresson-Ausstellung-in-Wolfsburg/!5112580
   DIR [3] https://www.expose-verlag.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Brigitte Werneburg
       
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