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       # taz.de -- Kunstprojekt in der Backstube: Beten, Backen, Spa
       
       > Künstlerin Irena Haiduk betreibt das Unternehmen Yugoexport. Jetzt lädt
       > sie zu Backtagen in eine profanierte Ruhrpott-Kirche – mit Sauna.
       
   IMG Bild: Haiduks Backstube: Wo früher ein Altar stand, steht nun eine lange Theke
       
       Nähert man sich der ehemaligen Kirche St. Bonifatius im Gelsenkirchener
       Stadtteil Erle, so meint man, in einer Bäckerei gelandet zu sein. Mit dem
       knallig-pinken Logo des Unternehmens Zipper streckt sich ein Backcafé lang
       vor den kantigen Sakralbau, den Architekt Ernst von Rudloff 1964 für eine
       Gemeinde von Bergarbeitern und ihren Familien realisieren ließ. Tatsächlich
       hat der Bäckereiunternehmer Christian Zippert die profanierte Kirche 2016
       gekauft und überlegt, in ihr eine Backstube einzurichten. Künstlerin Irena
       Haiduk stellt jetzt für einige Monate dort wirklich einen Backofen auf.
       Jeden Sonntag lädt sie nun zum gemeinschaftlichen Backtag.
       
       Haiduks Projekt „Healing Complex“ ist im Auftrag von Urbane Künste Ruhr
       entstanden. Als deren künstlerische Leiterin Britta Peters hierfür vor vier
       Jahren Kontakt mit Irena Haiduk aufnahm, ging es noch nicht ums Backen.
       Haiduk recherchierte gerade zu einer Kultur des Heilens unter den antiken
       Griechen. „Die bauten das Krankenhaus am selben Ort wie das Theater und das
       Spa. Es ging ihnen dabei um das Zusammensein“, berichtet die 1982 in
       Belgrad Geborene bei der Eröffnung Anfang Juni.
       
       Man kennt Haiduk vielleicht durch ihr Kunst-Unternehmen Yugoexport, mit dem
       sie alte Produkte des nicht mehr existierenden sozialistischen Jugoslawiens
       wieder auflegt. Durch Installationen wie Performances führt sie diese
       Gebrauchs- und Kleidungsartikel neu in den Wirtschaftskreislauf ein, wenn
       auch erst einmal nur in den der Kunst. Auf der documenta 14 ließ sie eine
       „Armee schöner Frauen“ in voller Yugoform durch Kassel spazieren.
       
       Irena Haiduk schafft Ökonomien. Möglichst auch nachhaltige Ökonomien.
       Deshalb entwickelte sie für die St.-Bonifatius-Kirche einen zwar
       künstlerisch gestalteten, aber auch praktisch nutzbaren Raum. Unter der
       beeindruckenden, polygonalen Sichtbetondecke der Kirche steht nun eine
       lange Theke, wo früher der Altar war. Sie ist umgeben von Arbeitstischen
       und kleineren Sitzmodulen. Alle Möbel hat Haiduk selbst entworfen, sie sind
       verschiebbar, haben Klappen und Stauräume. Merkwürdige Symbole sind in die
       Theke eingelassen. Sie könnten von längst vergessenen Vorfahren oder
       unbekannten Zivilisationen stammen.
       
       Mythisches trifft humorvoll auf einen Funktionalismus in dieser Arena des
       praktischen Mobiliars. Die noch etwas kahl wirkende Einrichtung aus hellem,
       unbehandeltem Holz soll auch der Ort eines eigenen Wirtschaftskreislaufs
       werden. Mit der Technik der Frottage können Besucher sich hier etwa selbst
       Geldscheine herstellen und damit vor Ort Getränke kaufen.
       
       ## Die verlässlichere Währung
       
       Selbst Geld zu produzieren und in Umlauf zu bringen ist ein Spiel, das an
       einer persönlichen Erfahrung der Künstlerin rührt: „Eine meiner ersten
       Erinnerungen ist der komplette Kollaps von Gesellschaft und Wirtschaft“,
       erzählt Irena Haiduk, deren Heimat Jugoslawien durch staatlichen Zerfall
       und blutige Auseinandersetzungen nicht mehr existiert. „Ich habe gelernt,
       dass Zahlungsmittel nur ein Papier mit einem Bild darauf sind. Wenn meine
       Mutter damals Lohn ausgezahlt bekam, schickte sie mich damit sofort los:
       ‚Kauf so viel Brot, wie du kriegen kannst!‘“ Und so kommt auch das Brot in
       ihre Installation. Für Haiduk ist es die vernünftigere, verlässlichere
       Währung.
       
       Gemeinsame Backtage gab und gibt es in vielen Kulturen – in Athen, zum
       Beispiel, sind sie eine übliche Sache. Um Energie zu sparen, kommen die
       Menschen eines Dorfs oder Stadtviertels zusammen, bringen ihren Teig mit,
       backen das Brot für die nächste Woche. Genau das soll nun auch in der
       Gelsenkirchener St.-Bonifatius-Kirche stattfinden. An einem Ort, der schon
       immer von Migration geprägt war, können die Besucher:innen nun
       gemeinsam das anfertigen, was in jeder Kultur vorkommt: Brot. Um den
       Kreislaufgedanken von „Healing Complex“ abzurunden, will Irena Haiduk die
       Abwärme des Ofens im besten Fall für eine Sauna nutzen. Back & Spa also.
       Bleibt nur die Frage offen, ob das noch etwas unbelebte Community-Projekt
       wirklich auch zu einem solchen wird.
       
       18 Jun 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Max Florian Kühlem
       
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