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       # taz.de -- Fußballer Thuram über Diskriminierung: „Rassismus ist profitabel“
       
       > Der frühere französische Fußballnationalspieler Lilian Thuram erklärt,
       > warum ein Perspektivenwechsel wichtig ist, um Rassismus besser zu
       > verstehen.
       
   IMG Bild: Lilian Thuram jubelte und wurde bejubelt nach seinen Treffern im WM-Halbfinale 1998 gegen Kroatien
       
       taz: Herr Thuram, wann haben Sie begonnen, sich für das Konzept des „weißen
       Denkens“ zu interessieren? 
       
       Lilian Thuram: Das ist sehr kompliziert – ich würde sagen, dass es
       eigentlich meine Lebensgeschichte war, die mich dazu gebracht hat, Fragen
       über Rassismus zu stellen. Ich bin in Guadeloupe geboren, kam im Alter von
       neun Jahren nach Paris und in der dritten Klasse meiner Schule in
       Bois-Colombes gab es Kinder, die mich als dreckigen Schwarzen beschimpft
       haben.
       
       Wie sind Sie damit umgegangen? 
       
       Es hat mich verletzt; ich habe es nicht verstanden. Meine Mutter hat mir
       gesagt: „So ist es, die Leute sind rassistisch, das wird sich nicht
       ändern.“
       
       Haben Sie als Neunjähriger etwas mit dem Begriff „rassistisch“ anfangen
       können? 
       
       Für mich hieß rassistisch, dass die Leute Schwarze nicht mögen. Und da
       meine Mutter es mir nicht weiter erklärt hat, habe ich versucht, die Dinge
       selbst zu verstehen. Ich habe Bücher gelesen, auch um zu versuchen, meine
       eigene Familiengeschichte zu verstehen. Als junger Erwachsener habe ich
       weitergelesen, traf Leute und verstand schließlich, dass Rassismus etwas
       Kulturelles ist und dass er eine unglaubliche historische Tiefe hat. Ich
       verstand, dass die Identitäten, die wir als Weiße oder Schwarze haben, mit
       der Rassifizierung der Welt zusammenhängen, bei der überlegene Rassen
       geschaffen wurden.
       
       Wie kam es dazu, dass Sie selbst darüber ein Buch veröffentlicht haben? 
       
       [1][Ich habe das Buch geschrieben], nachdem ich in der Nachbarschaft in
       einem Wartehäuschen eine Zeitschrift gesehen habe, auf deren ersten Seiten
       es um das „Schwarze Denken“ von verschiedenen Autoren ging. Ich dachte mir:
       „Warum reden wir nie über das weiße Denken?“ Und ich dachte, dass es
       interessant wäre, die Art zu ändern, wie Rassismus wahrgenommen wird:
       nämlich die weiße Kategorie zu hinterfragen, die unbewusst oder bewusst vom
       Rassismus profitiert. So habe ich das, was in der dritten Klasse passiert
       war, noch einmal durchgespielt und gesagt: Wenn ich schwarz geworden bin,
       wann sind diese Kinder, die mich beleidigt haben, weiß geworden?
       
       An wen richtet sich das Buch – an diejenigen, die, wie Sie es schreiben,
       die weiße Maske tragen und sich dessen nicht bewusst sind? 
       
       Es richtet sich eigentlich an den kleinen Jungen, der ich war. Für mich
       wäre es interessant, wenn die kleinen Jungen, die mich als dreckigen
       Schwarzen beschimpft haben, dieses Buch vor dem Treffen gelesen hätten. Ich
       glaube, dass es dann keine Beleidigungen gegeben hätte, weil die Kinder die
       weiße Maske zurückgewiesen hätten. Und ich hätte die schwarze Maske nicht
       getragen. Man muss versuchen, wirklich zu verstehen, [2][dass der Rassismus
       eine sehr, sehr, sehr lange Geschichte hat] und dass das, was heute
       geschieht, mit einer Vergangenheit verbunden ist, die uns sehr nahe ist.
       
       Wer profitiert vor allem von der weißen Maske? 
       
       Was für mich sehr interessant war, ist, dass Rassismus von Anfang an eine
       ökonomisch motivierte Propaganda ist, um Gewalt zu legitimieren. Sobald man
       vom Sklavenhandel spricht, von der Kolonialisierung, spricht man hinter all
       dem vom Willen einer Minderheit, sich durch die Aneignung von Körpern und
       Land zu bereichern. Aber dafür musste sie einen Diskurs erfinden, um einen
       Konsens zu schaffen, dass es normal ist, das zu denken: Eigentlich sind es
       keine Menschen wie wir.
       
       Was macht Sie optimistisch, dass diejenigen, die heute vom Rassismus
       profitieren, bereit sind, darauf zu verzichten? 
       
       Weil ich ein Mann bin. Ich weiß also, dass Männer in der Gesellschaft im
       Vorteil sind. Das bedeutet, dass ich als Mann daran arbeiten kann, mir
       bewusst zu werden, dass es tatsächlich Sexismus gibt, dass ich selbst
       Sexismus produzieren kann. Dass ich bereit bin, meine Söhne so zu erziehen,
       dass sie sich dessen bewusst werden. Das bedeutet, dass die Menschen, die
       von Rassismus profitieren, ohne es zu wollen, die gleiche Arbeit tun
       können. Und ich glaube, dass es tatsächlich immer mehr Menschen gibt, die
       das tun, weil sie verstanden haben, dass der Kampf gegen den Rassismus auch
       ein Kampf gegen die wirtschaftliche Gewalt in der Welt ist.
       
       Gleichzeitig zeigen Sie sich in Ihrem Buch pessimistisch, weil die
       Bedingungen für Veränderung immer schlechter würden. 
       
       Wir befinden uns im Wirtschaftsliberalismus, jeder muss für sich selbst
       sorgen. Das macht mir Angst. Denn wenn man Rassismus bekämpfen will,
       Sexismus, Homophobie, dann muss man den Willen zur Gleichheit, zum
       Miteinander, zur Solidarität haben. Und ich habe den Eindruck, dass wir uns
       heute auf eine Welt zubewegen, die immer weniger solidarisch ist; alles,
       was mit der Umverteilung von Reichtum zu tun hat, ist immer weniger
       akzeptabel.
       
       In Deutschland gibt es nicht die Figur eines Sportlers, der auch
       Intellektueller ist. Sind Sie in Frankreich eine Ausnahme? 
       
       Ich habe nicht das Gefühl, dass die Leute mich als Intellektuellen
       wahrnehmen. Was bedeutet es überhaupt, ein Intellektueller zu sein?
       
       Jemand zu sein, der sich in öffentliche Diskurse einmischt, würde ich
       sagen, der sich nicht nur als Privatperson versteht. 
       
       Leider wird den Sportlern suggeriert, [3][dass sie sich nicht für Politik
       interessieren sollen], sie sollen einfach nur Fußball spielen. Aber ich
       möchte sagen, dass Fußball politisch ist, und deshalb fordere ich die
       Fußballspieler auf, das Wort zu ergreifen und bestimmte Dinge anzuprangern.
       Und im Übrigen glaube ich, dass die Politiker im Allgemeinen Angst vor den
       Worten der Sportler haben, weil sie wissen, dass sie eine sehr große Zahl
       von Menschen erreichen können.
       
       17 Jun 2022
       
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