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       # taz.de -- Die Wahrheit: Zettels Albtraum
       
       > Selbst Schilder am Briefkästen schützen nicht. „Bitte keine Werbung und
       > keine kostenlosen Zeitungen!“: Der Dreck ohne Sinn und Verstand flutet
       > alles.
       
   IMG Bild: Ein Interview mit dem guten alten Ozzy Osbourne löst in Franken Publizistendurchfall aus
       
       Man kann noch so viele Zettel, große, oder Schilder, auf denen steht:
       „Bitte keine Werbung und keine kostenlosen Zeitungen!“, an seinen
       Briefkasten pappen, es nützt nichts. Die Wehrdienstleistenden der
       entfesselten Marketing- und Servicegesellschaft schert es nicht. Sie
       knallen dir praktisch jeden Tag halbzentnerweise Flyer vor den Latz, müllen
       dich zu, denn der vollkommen heruntergeranzte und daher ungeschminkt
       militante, in seinen letzten Zuckungen wütende Kapitalismus simuliert
       Leben, indem er das, was von diesem noch übriggeblieben ist, unter einem
       gigantischen Berg von vergeudetem Papier und sprachlichem Schrott begräbt.
       
       Manchmal denke ich, es liegt bei mir daran, dass wir in den achtziger
       Jahren mal in Sankt Augustin-Mülldorf gewohnt haben. Das ist
       selbstverständlich vollkommener Quatsch, aber auf solche Assoziationen
       kommt man, wenn man in der offenen Psychiatrie zu existieren gezwungen
       wird.
       
       Vielleicht ist die Welt, die vom Menschen verwüstete, einfach ein
       Kriegsschauplatz, auf dem jeder lauter und dümmer und dreister sein muss
       als der nächstbeste Idiot, um im nicht endenden marktwirtschaftlichen
       Gewürge nicht unterzugehen – um den Preis der finalen physischen und
       seelischen Zertrümmerung. Der späte Freud sah es so. In „Das Unbehagen in
       der Kultur“ prophezeite er, dass schließlich der Thanatos, der Todestrieb,
       die Oberhand über den Eros, den Lebenstrieb, behalten werde.
       
       Es ist ein Mahr. Zwei Beispiele mögen genügen. Da will mir ein „Grandmaster
       Sigung Birol Bariş Özden“ beibringen, wie ich anderen in die Fresse haue.
       In seiner All-Aacht-Akademie Frankfurt lehrt er „real, effektiv, logisch“
       Nahkampfmethoden, die „gegen Waffen“ helfen und dem „Teamgeist“ dienen
       sollen. Seine Kurse heißen etwa „All-Aacht Weapon“ und „Women Fight & Fit“.
       Die Annalena Barbarossa wird’s freuen, vielleicht meldet sie ihre
       zweiundzwanzig „Kids“ an, denn des Grandmasters Programm gilt „ab 4 Jahren“
       und präpariert die schon jetzt irreversibel kaputten Zöglinge für die
       „Selbstverteidigung“ und fürs „Anti-Mobbing“.
       
       Dass von Rechtschreibung und Grammatik in diesem PR-Universum keine Rede
       mehr sein kann, versteht sich. Das totalitäre Angeduze ist zudem obligat.
       Die Sklaventreiberanstalt Flink, die dir Butter, Fritz-Spritz und
       Wichsblätter nach Hause liefert, schreit mich auf einem
       Hochglanzpappdeckel, wie man ihn im Hotel außen an die Zimmertür hängt, an:
       „NA DU, Hast Du auch immer das Pech, die langsamste Schlange an der
       Supermarktkasse zu wählen? Erhöht sich Dein Stresslevel beim
       Highspeed-Einpacken der Einkäufe und der anschließenden Kleingeldsuche? Nur
       um danach Deine zu schweren Produkte in zu wenig Tüten nach Hause zu
       balancieren? Ciao, diese Zeiten haben nun ein Ende!“
       
       Die Zeit des Homo sapiens hat sowieso in absehbarer Zeit ein Ende, und ich
       bestelle jetzt wie Luther bei der Stadt eine zweite Altpapiertonne – für
       Werbung.
       
       15 Jun 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Roth
       
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