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       # taz.de -- Rechte Anschlagserie in Berlin-Neukölln: Der überfällige Ausschuss
       
       > Am Donnerstag nimmt der Untersuchungsausschuss die Arbeit auf. Betroffene
       > fordern seit langem Antworten – und ziehen Parallelen zum NSU.
       
   IMG Bild: Auch linke Kiezläden in Neukölln wurden angegriffen, hier der Allende-Kiezladen 2010
       
       Berlin taz | 13 Kartons voller Akten allein aus den Jahren 2016 bis 2019
       haben sich bei der Berliner Justiz zur rechtsextremen Neuköllner
       Terrorserie angesammelt. Mit der Zulassung der [1][Anklage gegen die beiden
       hauptverdächtigen Neonazis Sebastian T. und Tilo P.] durch das Amtsgericht
       Tiergarten in dieser Woche ist die juristische Aufarbeitung einen
       entscheidenden Schritt weiter. Parallel dazu beginnt nun endlich auch die
       [2][politische Aufarbeitung des Neukölln-Komplexes].
       
       An diesem Donnerstag konstituiert sich der parlamentarische
       Untersuchungsausschuss Neukölln. Die 13 Abgeordneten um den Vorsitzenden
       Florian Dörstelmann (SPD) werden über die Sommerpause einige Unterlagen zu
       wälzen haben, denn sie haben sich mit einem ambitionierten Fragenkatalog
       einiges vorgenommen.
       
       Die Abgeordneten wollen das Behördenversagen im Zusammenhang mit der
       „rechtsextremistischen Straftatenserie im Zeitraum von 2009 bis 2021 in
       Neukölln“ – so der offizielle Ausschusstitel – beleuchten. Dabei müssen sie
       sich mit möglichen rechten Netzwerken in den Behörden, aber auch
       Ermittlungsfehlern sowie langfristigen Entwicklungen in der rechten Szene
       beschäftigen und sogar nach Verbindungen bis ins NSU-Umfeld fragen.
       
       Nicht von ungefähr sagen einige Betroffene, dass die schon lange von ihnen
       geforderte Aufklärung im Grunde der NSU-Untersuchungsausschuss ist, den es
       nach der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios 2011 dringend gebraucht hätte.
       Denn bereits damals hätte es angesichts regionaler Neonazi-Aktivitäten
       genügend Anlass gegeben, mit parlamentarischen Mitteln rechte Strukturen zu
       durchleuchten, überregionale Vernetzungen der lokalen Neonazi-Szene
       anzuschauen und sich mit Verstrickungen von Behörden im Zusammenhang mit
       Rechtsextremismus zu beschäftigen – und immer wieder mit der Rolle des
       Berliner Verfassungsschutzes.
       
       Und so tauchen nun im Untersuchungsausschuss wieder die Namen der
       rechtsextremen Organisationen und Netzwerke auf, die bis heute in Berlin
       fortwirken: Freie Kräfte Neukölln, Nationaler Widerstand Berlin, NPD
       Neukölln. Mit Blick auf die jüngeren Ereignisse in Neukölln lassen sich
       ergänzen: AfD und III. Weg. Und es gibt sogar sehr lange deutliche Hinweise
       auf überregionale Überschneidungen der Szenen: Ein späterer
       [3][NSU-Unterstützer und enttarnter V-Mann „Piatto“ aus Neukölln], Carsten
       Szepanski, zündete bereits 1991 einen Bus der Neuköllner sozialistischen
       Jugendorganisation Die Falken an.
       
       Die Neuköllner Nazi-Netzwerke sammelten über Jahrzehnte Daten ihrer
       politischen Feinde, übten neben lokalem rassistischen Alltagsterror
       Anschläge und Sachbeschädigungen aus. Es ist kein Zufall, dass viele in dem
       Brandanschlag auf das Jugendhaus der Falken 2011 den Anfangspunkt der
       Neonazi-Anschlagsserie sehen.
       
       Es lässt sich der Bogen spannen bis [4][zu Morddrohungen an die
       Linken-Fraktionsvorsitzende Anne Helm], die 2020 mit der Unterschrift „NSU
       2.0“ unterschrieben waren. Heute sitzt Helm für die Linke mit im
       Untersuchungsausschuss. Neonazis erstellten Bewegungsprofile von ihr,
       klauten ihre Post, sprengten ihren Briefkasten.
       
       Engagierten in Neukölln wurden die Autos angezündet, Scheiben
       eingeschmissen, Todesdrohungen an Hauswände gesprüht sowie die Kinder und
       Familien von Betroffenen bedroht. Der [5][Mord an Burak Bektaş], dessen
       Ablauf teilweise an die NSU-Morde erinnert, ist ebenso unaufgeklärt wie
       zahlreiche andere rechtsextreme Straftaten in Neukölln.
       
       Und wenn wieder wie jüngst Autos in der Neuköllner Hufseisensiedlung
       brennen, weckt das bei Opfern meist böse Erinnerungen. Es gibt Betroffene,
       die es nicht mehr aushielten und weg gezogen sind – auch weil die
       Sicherheitsbehörde durch Nicht-Aufklärung versagten.
       
       ## Grundrauschen an offenen Fragen
       
       Denn es gib ein Grundrauschen an offenen Fragen, die den Verdacht eines
       rechten Netzwerks in den Behörden füttern: Polizist, AfD-Mitglied und
       Anwohner [6][Detlef M., der sich mit einem Hauptverdächtigen per Mail und
       Telegram-Gruppe austauschte] und mit weiteren Polizist*innen in einer
       rechten Chatgruppe unter anderem rassistische Inhalte teilte; der ehemals
       mit dem Neukölln-Komplex befasste [7][Ermittler Stefan K., der zusammen mit
       zwei Neonazis aus rassistischen Motiven einen Afghanen in Karlshorst]
       zusammenschlug und früher „Ansprechpartner“ für Betroffene in der Soko
       Rechtsextremismus war; der [8][Oberstaatsanwalt F. und Staatsanwalt S., die
       wegen Verdachts auf AfD-Nähe] vom Fall abgezogen und in andere Abteilungen
       versetzt wurden; schließlich der [9][LKA-Beamte Pit W., der sich mit einem
       der Hauptverdächtigen in einer Kneipe] getroffen haben soll.
       
       Was der Neukölln-Komplex aber auch ist: Vernetzung und Widerstand gegen die
       extreme Rechte. Während die Neonazis ihre Anschläge heimlich im Dunkeln
       begehen, solidarisieren sich Betroffene und Engagierte in Vereinen und auf
       der Straße. Sie verlegen zerstörte und gestohlene Stolpersteine neu und
       [10][demonstrieren seit mehr als drei Jahren fast jeden Donnerstag vor dem
       LKA Berlin] für Aufklärung der vielen offenen Fragen in dem Komplex. Sie
       organisieren ein jährliches Erich-Mühsam Stadtteilfest, engagierten sich
       2015 und 2016 wie selbstverständlich für Geflüchtete. Und sie demonstrieren
       trotz Bedrohungen und Anschlägen auch danach immer wieder gegen den
       gesellschaftlichen Rechtsruck. Auch dieser Druck hat dazu beigetragen, dass
       die Aufklärung nun endlich beginnen kann.
       
       Die Chronologie der rechten Anschlagserie 
       
       2009/2010 Immer häufiger kommt es nicht nur in Südneukölln, sondern auch im
       Norden des Bezirks zu Propagandadelikten, oft an Parteienbüros oder bei
       alternativen Einrichtungen: Aufkleber werden verklebt, NS-Symbole gesprüht,
       mitunter auch Fenster eingeworfen. Als verantwortlich zeichnen sich
       wiederholt die Neonazigruppierungen Aktionsgruppe Rudow, Nationale
       Sozialisten Berlin und Nationaler Widerstand Berlin.
       
       2011 Serie von Attacken und Brandanschlägen auf alternative und
       antifaschistische Projekte. Das Jugendzentrum Anton-Schmaus-Haus der Falken
       wird angezündet. In der Hufeisensiedlung werden Fenster einer Wohnung
       eingeworfen, deren Bewohner:innen zuvor die Annahme von NPD-Wahlwerbung
       verweiger hatten.
       
       2012 Am 5. April wird Burak Bektaş erschossen als ein Unbekannter mehrfach
       und gezielt in eine Gruppe Jugendlicher schießt. Zwei werden schwer
       verletzt. Die Hinterbliebenen und die Burak-Initiative vermuten den Täter
       im Neonazi-Milieu. Sebastian T. gilt als möglicher Verantwortlicher der
       Internetseite des NW Berlin, auf der Bilder von Farbschmiereien bei
       politischen Gegnern veröffentlicht werden.
       
       2013/14/15 Weiter hohe Zahl von Propagandadelikten und Bedrohungen: Vor den
       Bundestagswahlen 2013 und der Europawahl 2014 gibt es nahezu wöchentliche
       NPD-Infostände. Am 20.9.15 wird der englische Staatsbürger Luke Holland aus
       nächster Nähe vom Nazi Rolf Zielezinski auf offener Straße erschossen.
       
       2016 Ab Mai, kurz nach der Entlassung von Sebastian T. aus dem Gefängnis,
       kommt es zu mehreren Brandanschlägen auf die Autos von Nazigegnern. Zum
       Jahresende werden das linke Café K-Fetisch und die Buchhandlung Leporello
       Ziel von Angriffen. Bei einer Reihe von Antifaschist:innen werden an
       ihrem Wohnadressen Beleidigungen gesprüht.
       
       2017 Innerhalb von zehn Tagen im Januar brennen die Autos der
       SPD-Bezirksverordneten Mirjam Blumenthal und des Buchhändlers Heinz
       Ostermann. Weitere Autobrandstiftungen bei Personen, die sich im Bezirk
       gegen rechts engagieren, folgen. Wieder werden linke Aktivist:innen
       zuhause durch Sprühereien beleidigt. Stolpersteine werden gestohlen.
       
       2018 Am 1. Februar kommt es zum nächtlichen Brandanschlag auf das Auto von
       Ferat Kocak. Nur mit Glück springt das Feuer nicht auf das Wohnhaus über.
       In der selben Nacht wird auch Ostermanns Auto angezündet – zum dritten Mal.
       Im August wird Sebastian T. nach einem Brandanschlag festgenommen, aber
       nach der Vernehmung wieder entlassen.
       
       2019 Der Generalbundesanwalt lehnt die Übernahme der Ermittlungen ab. Beim
       LKA wird die EG Resin („Ermittlungsgruppe Rechtsextremismus in Neukölln“)
       aufgelöst und die BAO Fokus („Besondere Aufbaugruppe“) gegründet. Die
       Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen Sebastian T. und Tilo P. wegen
       Sachbeschädigungen und Verwendung verfassungsfeindlicher Kennzeichen.
       
       2020 Der Polizist Detlef M. soll in einer AfD-Chatgruppe Interna zu den
       Ermittlungen auch an einen der Verdächtigen weitergegeben haben. Zwei
       Staatsanwälte werden wegen möglicher Befangenheit versetzt; die Berliner
       Generalstaatsanwaltschaft zieht die Ermittlungen an sich. Die BAO Fokus
       legt ihren Abschlussbericht vor. Migrantische Läden werden mit NS-Symbolen
       besprüht.
       
       2021 Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin erhebt gegen die zwei
       Hauptverdächtigen Sebastian T. und Tilo P. Anklage wegen gemeinschaftlicher
       schwerer Brandstiftung an den Autos von Ferat Kocak und Heinz Ostermann.
       Außerdem sollen die beiden Neonazis im März 2019 mehrere Hauseingänge
       vermeintlicher politischer Gegner:innen mit Drohungen wie „9 mm für …“
       besprüht haben.
       
       15 Jun 2022
       
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