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       # taz.de -- Rechtes Attentat in Hanau: Polizeichaos in der Tatnacht
       
       > Ein Gutachten zeigt, wie chaotisch die Polizei dem Hanau-Attentäter
       > nachspürte. Sein Haus war schlecht umstellt und wurde erst nach Stunden
       > gestürmt.
       
   IMG Bild: Polizisten in Hanau in der Tatnacht am 20. Februar 2020
       
       Berlin/Hanau taz | Seit gut einem halben Jahr läuft in Hessen ein
       [1][Untersuchungsausschuss zum rassistischen Attentat in Hanau] vom 19.
       Februar 2020. Die Kritik an der Polizei reißt dabei nicht ab, es bleiben
       viele offene Fragen. Eine davon: Warum eigentlich dauerte es nach dem
       Anschlag mehrere Stunden, bis die Polizei gegen den Attentäter Tobias R.
       vorging – obwohl dessen Aufenthaltsort in seiner Hanauer Wohnung, in der er
       mit seinen Eltern lebte, früh klar war?
       
       Dieser Frage widmete sich auch die [2][Gruppe Forensic Architecture], ein
       Team von Wissenschaftler:innen aus Berlin und London, die
       Menschenrechtsverletzungen nachgehen. Sie wurden dafür von Anwält:innen
       der Opferfamilien beauftragt.
       
       Die Forscher:innen prüften nochmals Ermittlungsakten zum Hanau-Attentat,
       rekonstruierten das Täterhaus mittels Computersimulationen sowie einem
       Nachbau des Wohnzimmers und führten Schallversuche durch. Ihr Fazit: Die
       Polizei handelte in der Tatnacht vor dem Haus von Tobias R. weitgehend
       unkoordiniert und fahrlässig. Und auch Angaben des Vaters des Attentäters
       seien unglaubwürdig.
       
       Tobias R. hatte am 19. Februar 2020 um kurz vor 22 Uhr in Hanau in mehreren
       Bars und einem Kiosk [3][neun Menschen mit Migrationsgeschichte]
       erschossen. Anschließend fuhr er nach Hause, tötete im Laufe der Nacht
       seine pflegebedürftige Mutter mit zwei Schüssen und dann sich selbst.
       Seinen Vater ließ er am Leben.
       
       ## Polizeibeamte unkoordiniert am Täterhaus
       
       Die Polizei hatte in der Tatnacht Tobias R. rasch identifiziert. Bereits
       kurz nach 22 Uhr kannte sie laut Ermittlungsakten seine Adresse,
       Zeug:innen hatten auf seinen PKW hingewiesen. Erste
       Zivilpolizist:innen erreichten das Haus nach eigener Aussage gegen
       22.30 Uhr. Und trafen gleich auf Probleme: Örtliche Hells Angels dachten,
       sie würden beschattet und behinderten die Beamten. Später trafen drei
       weitere Polizeiteams ein.
       
       Forensic Architecture verweist dagegen auf Hubschrauberbilder, die zeigten,
       dass die Polizist:innen erst gegen 23 Uhr am Täterhaus waren. Und
       komplett umstellt wurde dieses auch nicht: So ließen die Beamten den
       Hinterausgang lange Zeit unbewacht, eine Stunde lang selbst die Vordertür,
       auch ein Passant konnte am Haus vorbeilaufen. Eine Flucht des Täters wäre
       damit problemlos möglich gewesen, kritisieren die Forscher:innen.
       
       Auch eine Überwachung des Gebäudes mit einem Polizeihubschrauber scheiterte
       – weil dessen Besatzung erst gar nicht über die Täteradresse informiert
       wurde. In Funksprüchen nannte die Besatzung ihren Einsatz selbst „eine
       komplette Katastrophe“.
       
       Erst um kurz nach drei Uhr hatten die Polizeikräfte schließlich das Haus
       gestürmt – der Attentäter und seine Mutter waren da bereits tot. Dass
       keiner der Beamten die Schüsse von Tobias R. gehört haben will, halten die
       Forscher:innen für unglaubwürdig. Laut ihren Schallexperimenten müssen
       diese auch außerhalb des Hauses deutlich hörbar gewesen sein.
       
       ## Untersuchung auch zum verschlossenen Notausgang
       
       Für Robert Trafford, Projektleiter von Forensic Architecture, stützt die
       Untersuchung die Kritik der Opferfamilien an der Polizei. „Die Polizei hat
       in der Tatnacht versagt.“ Der „nachlässige Umgang“ mit einem Attentäter sei
       schockierend. Die Vorgänge müssten nun „dringend“ im hessischen
       Untersuchungsausschuss geklärt werden.
       
       Auch die Angaben des [4][Vaters des Täters, Hans-Gerd R.], zur Tatnacht
       hält Forensic Architecture für nicht glaubhaft. Der Rentner hatte
       Ermittlern gesagt, er habe von den Morden in seinem Haus nichts
       mitbekommen. Er sei um 20 Uhr im Obergeschoss schlafen gegangen und erst
       gegen Mitternacht vom Blaulicht der Polizei aufgewacht. Als er zur Toilette
       gegangen sei, habe er von draußen drei Schüsse gehört. Dann sei er ins Bett
       zurückgekehrt.
       
       Auch diese Angaben seien durch die Schallexperimente widerlegt, erklären
       die Forscher:innen: Die Schüsse müssen im Haus laut vernehmbar gewesen
       sein. Zudem gab es Zugriffe auf den Computer des Vaters um 23.24 Uhr.
       Mehrere Minuten lang sei dort die Webseite des Sohnes aufgesucht worden,
       auf der dieser seine Tat angekündigt hatte. Viel spreche daher dafür, dass
       der Vater eine „Falschaussage“ zu Protokoll gegeben habe, so Forensic
       Architecture.
       
       Die Untersuchungsergebnisse werden seit Donnerstag auch in einer
       Ausstellung im Frankfurter Kunstverein präsentiert. Gezeigt wird dort auch
       ein weiteres Projekt von Forensic Architecture zum Hanau-Komplex. Bereits
       im Dezember hatte sich die Gruppe dem [5][verschlossenen Notausgang an
       einem der Tatorte] gewidmet. Ergebnis: Wäre der Notausgang offen gewesen,
       hätte die Zeit für alle damals Anwesenden gereicht, um flüchten zu können.
       Stattdessen starben an diesem Tatort aber Said Nesar Hashemi und Hamza
       Kurtović.
       
       ## Angehörige der Opfer erheben weitere Vorwürfe
       
       Die Staatsanwaltschaft Hanau hatte die Ermittlungen zum Notausgang indes
       eingestellt: Es sei unsicher, ob der Notausgang tatsächlich verschlossen
       war und spekulativ, ob die Getöteten tatsächlich den Ausgang erreicht
       hätten.
       
       Auch die Bundesanwaltschaft hatte im Dezember 2021 ihre [6][Ermittlungen
       zum Hanau-Komplex eingestellt], inklusive der Ermittlungen zum Vater des
       Attentäters. „Eine tragfähige Grundlage für die Annahme, dass er die
       Begehung der Taten für möglich gehalten oder diese sogar gefördert hat, ist
       nicht vorhanden“, erklärte die Behörde. Zwar teile auch der Vater ein
       extremistisches Weltbild – das begründe aber noch keine Einflussnahme auf
       die Tat.
       
       Im Oktober 2021 war der 74-Jährige allerdings zu einer Geldstrafe von 5.400
       Euro verurteilt worden, weil in einem Brief Angehörige der Hanau-Opfer als
       „wilde Fremde“ bezeichnet hatte, die sich „dem Deutschen Volk unterordnen“
       sollten.
       
       Die Angehörigen der Mordopfer glauben dagegen bis heute, dass der Vater in
       die Tatpläne involviert gewesen sein könnte. Auch der Polizei werfen sie
       einen unempathischen Umgang mit ihnen vor, sie kritisieren außerdem, der
       Notruf sei in der Tatnacht nicht erreichbar gewesen.
       
       2 Jun 2022
       
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