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       # taz.de -- Verfassungsreferendum in Kasachstan: Klare Mehrheit für Veränderung
       
       > 77 Prozent der Kasach*innen stimmen für demokratische Reformen. Die
       > Macht des Präsidenten wird eingeschränkt, doch seine Stellung bleibt
       > stark.
       
   IMG Bild: Die Wahlbeteiligung beim Verfassungsreferendum in Kasachstan lag bei 68 Prozent
       
       Berlin taz | Die Kasach*innen haben den Weg für eine Generalüberholung
       ihrer Verfassung frei gemacht. Bei einem [1][Referendum] am Sonntag
       stimmten 77,17 Prozent für weitreichende Änderungen des Grundgesetzes aus
       dem Jahr 1995. Die Wahlbeteiligung lag offiziellen Angaben zufolge bei rund
       68 Prozent und damit um knapp fünf Prozent höher als bei der Parlamentswahl
       im Januar 2021.
       
       Die Volksabstimmung hatte Präsident Kassim-Schomart Tokajew, seit 2019 im
       Amt, erst vor einem Monat angesetzt und als Projekt für grundlegende
       demokratische Reformen beworben, das den Übergang des politischen Systems
       von einem „super-präsidentiellen“ hin zu einem Präsidialsystem mit einem
       starken Parlament ermöglichen solle. Wiederholt war auch von der „Zweiten
       Republik Kasachstan“ die Rede gewesen.
       
       Beobachter*innen sehen das Referendum in einem direkten Zusammenhang
       mit den Massenunruhen, die den [2][öl- und gasreichen ex-sowjetischen
       zentralasiatischen Staat] im vergangenen Januar erschüttert hatten. Bei den
       gewalttätigen Auseinandersetzungen – [3][laut Regime eine aus dem Ausland
       gesteuerte terroristische Aktion] – waren offiziellen Angaben zufolge
       [4][232 Menschen getötet] und tausende verletzt und festgenommen worden.
       Viele Angeklagte warten immer noch auf ihren Prozess.
       
       Forderungen, internationale Expert*innen an den Untersuchungen zu
       beteiligen, hatte die Regierung stets abgelehnt. Präsident Tokajew sieht
       hier auch weiterhin keinen Handlungsbedarf, wie er am vergangenen Sonntag
       in der Hauptstadt Nur-Sultan sagte. Gleichzeitig kündigte er jedoch an,
       dass demnächst eine Liste mit den Namen der Getöteten öffentlich gemacht
       werden solle.
       
       ## Die Vollmachten des Präsidenten werden eingeschränkt
       
       Insgesamt sind 56 und damit mehr als ein Drittel aller Verfassungsartikel
       von den Veränderungen betroffen. Die Wähler*innen konnten jedoch nur en
       bloc mit Ja oder Nein stimmen.
       
       Fortan darf der Präsident keiner politischen Partei mehr angehören, auch
       seinen Verwandten sind politische Ämter und die Leitung staatlicher
       Betriebe versagt. Dennoch behält das Staatsoberhaupt wichtige Vollmachten.
       So ernennt der Präsident unter anderem den Regierungschef, die Mitglieder
       des Kabinetts, den Sicherheitschef sowie den Generalstaatsanwalt. Zudem
       darf er über Gouverneure und Bürgermeister bestimmen. Aktivist*innen
       hatten gefordert, dass über die Besetzung dieser Ämter auf lokaler Ebene
       per Wähler*innenvotum entschieden werden solle.
       
       Auch für Tokajews Amtsvorgänger, den autokratischen Dauerherrscher
       Nursultan Nazarbajew, wird es eng. Der heute 81-jährige Autokrat, von 1990
       bis 2019 an der Macht, hatte vor allem seinen Familienclan großzügig mit
       lukrativen Posten versorgt. Doch auch nach seinem formalen Rückzug zog er
       weiterhin die Strippen. Mit der Reform werden sein Titel „Elbasy“ (Führer
       der Nation) aus der Verfassung gestrichen und die lebenslange Immunität
       aufgehoben.
       
       Die geänderte Verfassung sieht auch wieder ein Verfassungsgericht vor. Zwar
       darf der Präsident immer noch den Vorsitzenden sowie vier der sieben
       Richter bestimmen. Doch immerhin können Bürger*innen Petitionen
       einreichen, um Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu lassen.
       Zudem soll das Amt einer Ombudsperson für Menschenrechte eingeführt werden,
       die vor Strafverfolgung geschützt sowie staatlichen Stellen gegenüber nicht
       rechenschaftspflichtig ist. Die Todesstrafe wird abgeschafft.
       
       Kritiker*innen hatten im Vorfeld gefordert, die Volksabstimmung zu
       verschieben. Die Zivilgesellschaft sei nicht in den Prozess eingebunden
       gewesen, zudem wüssten die meisten Kasach*innen überhaupt nicht, worüber
       sie genau abstimmen sollten.
       
       Doch es geht nicht nur um Formalien. „Bevor Tokajew von Nazarbajew als
       dessen Nachfolger ausgewählt wurde, hat er 20 Jahre für die Regierung
       gearbeitet“, zitiert der Sender Radio Freies Europa den kasachischen
       Aktivisten Orynbasar Schanbekow. „Welche Reformen hat Tokajew in all diesen
       Jahren angestoßen? Keine. Deshalb wird es auch nach diesem Referendum keine
       Veränderungen geben.“
       
       6 Jun 2022
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Oertel
       
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