# taz.de -- Neuausgabe Kathy Acker: Die wilde Heldin
> Endlich wird ein Fehlurteil revidiert: „Bis aufs Blut“, Kathy Ackers
> Underground-Klassiker, erscheint in einer Neuausgabe.
IMG Bild: Inzest, Pädophilie und allerlei ausgefallener Sex sind die Ingredienzen in Kathy Ackers Roman
Janey Smith, die Anti-Heldin aus [1][Kathy Ackers „Blood and Guts in
Highschool“], ist Punk. Gerade mal zehn Jahre alt, hat sie ein Verhältnis
mit ihrem Vater, aber der will sie loswerden und schickt sie auf eine
heruntergekommen Schule im New Yorker East Village.
Janey jobbt in einer Hippie-Bäckerei, hasst die Vollwert-Heuchelei und die
Kunden noch viel mehr, nimmt allerhand Drogen, treibt sich mit einer
gewalttätigen Straßengang herum, randaliert, raubt und plündert, bis fast
alle Bandenmitglieder bei einer Verfolgungsjagd draufgehen. Sie lebt
promiskuitiv, hat zwei Abtreibungen. Ihre grausam-klinischen
Tagebuch-Aufzeichnungen zum ersten Eingriff, die ihre tiefe Traumatisierung
offenbaren, gehören zu den eindrücklichsten Passagen des Romans.
Schließlich wird sie von Einbrechern verschleppt und landet im Gefängnis
eines persischen Sklavenhändlers, der ihr zweimal am Tag aufwartet, um ihr
beizubringen, wie man eine Hure wird. Aber hier findet sie auch Muße zum
Schreiben.
## Liebesgedichte für den Peiniger
Dass sie etwas später, krebskrank, in Tanger mit dem großen
Zuchthaus-Literaten Jean Genet zusammentrifft und ihre letzten Tage
verbringt, ist womöglich nur eine Fieber- und Fluchtfantasie. In
Ermangelung eines Besseren verliebt sie sich in ihren persischen Peiniger,
schreibt ihm Liebesgedichte, lernt seine Sprache, und mehr und mehr beginnt
sich nun ihr Ich aufzulösen.
Kathy Ackers bereits 1978 erschienenes Romanexperiment wächst sich aus zu
einer surrealen, den Leser fordernden Fuge, einer dissoziativen
Text-Bild-Collage, die Pimmel- und Mösenbilder, Grundrisse von
Maya-Gebäuden, „Traumkarten“, Höhlenmalereien und immer wieder Zitate
beziehungsweise Plagiate hart aneinanderfügt.
„Bis aufs Blut. Zerfleischt in der Highschool“ ist ein frühes Beispiel
transgressiven Schreibens im Zeichen weiblicher Selbstermächtigung. Die
Ich-Erzählerin identifiziert sich mit der „wilden“ Heldin Hester Prynne aus
Nathaniel Hawthornes „Der scharlachrote Buchstabe“, die wegen ihres
Ehebruchs aus der puritanischen Gesellschaft ausgestoßen wird.
Prynne ist für Janey der Archetyp einer emanzipierten, Lust und Laster auch
gegen kollektive Widerstände voll auslebenden Rebellin. Und im Gegensatz zu
Hawthorne darf Acker das jetzt auch voll ausschreiben.
## Inzest, Pädophilie und ausgefallener Sex
Transgressiv ist dieses Buch aber nicht nur inhaltlich mit seinen vielen,
Inzest, Pädophilie und allerlei ausgefallenen Sex beschreibenden „Stellen“,
sondern nicht zuletzt formal. Acker spielt mit Avantgarde-Techniken der
konkreten Poesie, des Cut-up, sie nutzt Text-Bild-Montagen der
Surrealisten, collagiert fremde Texte und überschreibt sie. Später
entwickelt sie daraus eine eigene Plagiatstheorie.
Das Buch avanciert zu einem Underground-Klassiker in den USA, der 1985 in
deutscher Übersetzung erscheint und den die Bundesprüftstelle für
jugendgefährdende Schriften sofort auf den Index setzt. Die Gutachter
torpedieren mit einiger argumentativer Perfidie die offensichtliche
literarische Konstitution des Buches, um es zur Bückware zu degradieren.
[2][Der März-Verlag] revidiert dieses Fehlurteil jetzt erfreulicherweise
mit einer auch buchgestalterisch sehr schönen Neuübersetzung.
18 Jun 2022
## LINKS
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## AUTOREN
DIR Frank Schäfer
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