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       # taz.de -- Hungersnot in Afrika: Das Essen wird unbezahlbar
       
       > Seit Jahren steigt weltweit die Zahl derer, die an Hunger leiden. Jetzt
       > erschwert der Ukrainekrieg die Versorgung zusätzlich.
       
   IMG Bild: Eine Mutter ist mit ihren Kindern geflohen vor Hunger und Dürre in Somalia, Mai 2022
       
       Kaum eine Zahl auf der Welt steigt derzeit so rasant wie die Zahl der
       Hungernden. 240 Millionen Menschen auf der Welt werden dieses Jahr in einem
       Zustand der „Ernährungskrise“ leben, prognostizieren das
       UN-Welternährungsprogramm [1][WFP] und die UN-Agrarorganisation FAO in
       ihrem neuen Quartalsfrühwarnbericht, der diese Woche veröffentlicht wurde.
       Vor einem Jahr waren es 193 Millionen. Im Jahr 2020 155 Millionen. Im Jahr
       2018 113 Millionen Menschen. Die allermeisten leben – oder sterben – in
       Afrika.
       
       Hinter dem Begriff „Ernährungskrise“ verbirgt sich nacktes Elend. Gemeint
       sind Menschen, die entweder immer wieder nichts zu essen haben oder dafür
       auf andere essenzielle Ausgaben verzichten – wenn einfaches Essen also zum
       Luxus wird und man jeden Tag neu überlegen muss, wo die nächste Mahlzeit
       herkommt.
       
       Auf dem [2][UN-]Welthungerindex, der von 1 bis 5 geht, ist die
       „Ernährungskrise“ aber bloß die mittlere Stufe 3. Stufe 4 ist der
       „humanitäre Notfall“, Stufe 5 die „Hungersnot“. „Eine Hungersnot“,
       erläutert das Bündnis Aktion Deutschland Hilft, „wird von den Vereinten
       Nationen ausgerufen, wenn mindestens 30 Prozent der Bevölkerung akut
       unterernährt sind, pro Person weniger als vier Liter Wasser am Tag zur
       Verfügung stehen, die Menschen am Tag weniger als 2.100 Kilokalorien
       Nahrung zu sich nehmen, kein eigenes Einkommen mehr erwirtschaftet werden
       kann und mindestens zwei von 10.000 Menschen täglich aus
       Nahrungsmittelmangel sterben.“
       
       Für 750.000 Menschen weltweit ist dieser Zustand laut UN bereits Realität.
       Zwei Hungertote von 10.000 Menschen pro Tag – das sind bei 750.000 Menschen
       4.500 Hungertote pro Monat. Die gibt es jetzt schon. Und es werden mehr.
       
       401.000 der 750.000 zählt die UN in Äthiopien. Die Zahl gilt als stark
       untertrieben: Kritiker werfen der UN vor, aus politischer Rücksichtnahme –
       um überhaupt in Äthiopien arbeiten zu dürfen – die Lage in der Nordprovinz
       [3][Tigray] zu beschönigen. Im März schätzten US-Hilfswerke die Zahl der
       Menschen in Hungersnot auf 750.000.
       
       Tigray befindet sich seit November 2020 im bewaffneten Aufstand gegen die
       Zentralregierung und leidet unter einer Wirtschaftsblockade. Von Tigrays 7
       Millionen Einwohnern sind nach UN-Angaben 6,3 Millionen auf Hilfe
       angewiesen. Die meisten sind auf sich allein gestellt. Die letzte
       WFP-Verteilaktion Ende Mai versorgte laut dem jüngsten UN-Lagebericht
       395.428 Menschen mit „Essenpaketen“ – pro Person etwas über 16 Kilo
       Getreide, Hülsenfrüchte und Speiseöl. Nach UN-Standard soll das für einen
       Monat reichen. In Tigray könnte es für viele die einzige Versorgung des
       Jahres gewesen sein. Nur 2,2 Millionen Bedürftige wurden seit
       Wiederaufnahme der humanitären Hilfe im Oktober 2021 wenigstens einmal
       erreicht. Auch wenn Hilfsgüter Tigray erreichen, stecken sie lange in der
       Hauptstadt Mekelle fest, mangels Benzin zum Weitertransport. Äthiopien
       blockiert auch die Treibstofflieferungen.
       
       Tigray zeigt: Hungerkrisen sind hausgemacht. 70 Prozent aller Menschen in
       „Ernährungsunsicherheit“ leben in Konfliktgebieten. Nach Äthiopien folgen
       in der UN-Liste aktueller Hungersnöte die chronischen Bürgerkriegsländer
       Jemen (161.000 Betroffene), Südsudan (87.000), dann Somalia (81.000) und
       schließlich Afghanistan (20.000). In Zeiten von Konflikten und
       Bürgerkriegen können Bauern ihre Felder nicht bestellen, es gibt keine
       Aussaat, dann keine Ernte, dann keine Nahrungsmittel auf den Märkten. Die
       Menschen ziehen in die Städte oder in Lager, um zu überleben. Und wenn die
       selbstversorgende Landwirtschaft einmal zusammengebrochen ist, ist es sehr
       schwer, sie wiederaufzubauen.
       
       Der Punkt, wo aus einer chronischen Konfliktsituation eine chronische
       Hungerkrise wird, ist in Südsudan und der Zentralafrikanischen Republik
       bereits überschritten: Hier herrscht flächendeckend Mangel, trotz immenser
       brachliegender fruchtbarer Ackerflächen. Dieses Jahr könnte dieser Zustand
       in Teilen der Sahelzone erreicht werden. In Teilen von Mali, Niger und
       Burkina Faso sowie Nigerias ist der Großteil der ländlichen Bevölkerung auf
       der Flucht vor Terrorgruppen, kriminellen Milizen und militärischen
       Strafaktionen.
       
       In Niger liegen die Ernten jetzt schon nach Angaben des Internationalen
       Komitees vom Roten Kreuz um 40 Prozent unter dem Fünfjahresdurchschnitt, in
       Mali um 15 und in Burkina Faso um 10 Prozent. Die Lebensmittelpreise in der
       Region sind zugleich innerhalb von fünf Jahren um 20 bis 30 Prozent
       gestiegen.
       
       Solche kleinen Verschiebungen können für Menschen am Existenzminimum
       tödlich sein, und auch für Regierungen. In Sudan waren steigende Brotpreise
       Ende 2019 das Fanal zur Revolte gegen die Militärdiktatur, der
       Volksaufstand gegen die Generäle dauert an. Heute liegt die Inflation bei
       200 Prozent. Diese Woche warnte die UN, ein Drittel der Bevölkerung
       [4][Sudans] – 15 Millionen Menschen – lebe in „Ernährungsunsicherheit“,
       mehr denn je. In der Krisenregion Darfur sind es 90 Prozent.
       
       Akut sorgen sich Helfer um Somalia, nach vier Missernten hintereinander
       infolge von Dürre und Heuschreckenplagen. In Somalia hungern nach
       UN-Angaben vom Juni 7,1 Millionen Menschen – fast die Hälfte der
       Bevölkerung, 1 Million mehr als noch im März geschätzt. Als der neue
       Präsident Hassan Sheikh Mohamud am 9. Juni in sein Amt eingeführt wurde,
       appellierte er „an die Welt, unser Volk zu retten“. Diese Woche berichtet
       Ärzte ohne Grenzen aus Somalia: „Einige Menschen erzählen uns, dass sie die
       unmögliche Entscheidung treffen mussten, eines ihrer Kinder sterben zu
       lassen, um die anderen zu retten.“
       
       Mehr Hunger – das müsste auch mehr Hungerhilfe bedeuten. Aber dieses Jahr
       ist alles anders. Die Covid-19-Pandemie hat Lieferketten gestört und
       Transporte weltweit verteuert. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine
       setzt dieselbe Spirale in Gang wie in Hungergebieten: weniger Aussaat,
       weniger Ernte, weniger Waren. Nur diesmal mit weltweiten Auswirkungen – aus
       der Ukraine und Russland kommen 30 Prozent des Getreides im Welthandel. Die
       globalen Getreidepreise sind zwischen Januar und April um 21 Prozent
       gestiegen, die Ölpreise um 24,5 Prozent.
       
       Für Afrika ist das dramatisch. Urbanisierung steigert Afrikas Abhängigkeit
       von Getreideimporten: Die Stadtbevölkerung isst mehr verarbeitete
       Importware, Geschäftsleute verdienen am besten durch Importgeschäfte,
       lokale Bauern haben oft das Nachsehen. Afrikas Weizenimporte stiegen laut
       Afrikanischer Union von 2007 bis 2019 von 29 auf 47 Millionen Tonnen. Vor
       dem Krieg wurde bis 2025 eine weitere Zunahme auf 65 Millionen
       prognostiziert – mit Russland und der Ukraine als Hauptlieferanten.
       
       Was ist, wenn diese Hauptlieferanten ausfallen? In die aktuellen
       Hungerprognosen für Afrika sind die Auswirkungen des Ukrainekriegs noch gar
       nicht vollständig eingearbeitet. Der neue Frühwarnbericht hält einen
       kriegsbedingten weiteren Anstieg der Zahl der Menschen in „Ernährungskrise“
       um 47 Millionen für möglich.
       
       Diese Woche erklärte das WFP, es sei aus Kostengründen gezwungen, seine
       Versorgung von 1,7 Millionen Hungernden im Südsudan komplett einzustellen,
       nachdem die Essenspakete schon 2021 halbiert worden waren. 7,74 Millionen
       Menschen – 60 Prozent der Bevölkerung – stehe ab Juli „schwerer akuter
       Hunger“ bevor. Was das bedeute, wisse man: Familien verkaufen ihre Kinder.
       Unmenschlichkeit oder Tod – vor dieser Wahl stehen die Menschen, wenn sie
       keine Kraft mehr haben.
       
       19 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.wfp.org/hunger-catastrophe
   DIR [2] https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/blog/hungersnot-ernaehrungskrise-mangelernaehrung-was-ist-das/135664
   DIR [3] /Hunger-in-Nordaethiopien/!5743554
   DIR [4] https://www.wfp.org/countries/Somalia?utm_source=google&utm_medium=cpc&utm_campaign=13353406503&utm_content=126747591567&gclid=Cj0KCQjwzLCVBhD3ARIsAPKYTcR5WdHzfkjWSeLDEdgVhiglGUknUrPoWjWo8O5pmFAM9KrdDgGJarAaAmUKEALw_wcB&gclsrc=aw.ds
       
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