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       # taz.de -- Umstrittener Film „The Kashmir Files“: Gewalt im Kaschmirtal
       
       > Der Film „The Kashmir Files“ sorgt für Kontroversen. Kritiker bemängeln
       > hindunationalistische Propaganda, dem Regisseur geht es um Humanität.
       
   IMG Bild: Der Filmemacher Vivek Agnihotri bei einer Pressekonferenz zu „The Kashmir Files“ im Mai in Neu-Delhi
       
       Nach der Pandemie hat es in Indien nur ein Streifen geschafft, Menschen
       wieder in Massen in die Kinosäle zu locken: Die Rede ist von „The Kashmir
       Files“. Bisher gilt er als erfolgreichster Hindi-Film des Jahres. Doch es
       bleibt ein bitterer Beigeschmack, denn die Linie zwischen Propaganda und
       Geschichtsschreibung verwischt stark in den 170 Minuten dieser fiktiven
       Geschichte eines jungen Mannes, der versucht, die Vertreibung von Hindus im
       indischen Kaschmir aufzuarbeiten.
       
       Es ist die mutmaßliche historische Ungenauigkeit, die vielen aufstößt und
       die teils als hindunationalistische Propaganda angesehen wird. Das durchaus
       gut gespielte Drama thematisiert die 1990er Jahre, als während einer
       Separatistenbewegung gegen die indische Verwaltung im indischen Kaschmirtal
       grausame Verbrechen von militanten Muslimen an der Bevölkerung, vor allem
       an Hindus, aber auch an anderen Bevölkerungsgruppen wie Sikhs begangen
       wurden. Sie waren teils aufgefordert worden zu fliehen oder zu
       konvertieren.
       
       Militante Gruppen wie die Jammu-Kaschmir-Befreiungsfront (JKLF), dessen
       Anführer Yasin Malik im Mai zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, oder die
       islamistische Jamaat-e-Islami Kashmir, zum Teil unterstützt vom Erzfeind
       Pakistan, sorgten vor drei Jahrzehnten, ebenso wie heute auf der Leinwand,
       für großen Schrecken.
       
       Die Morde an Kashmiri Pandits, das heißt Hindus der oberen Kaste aus dem
       Kaschmirtal, werden im Film rekonstruiert und auf eine Familie projiziert.
       Angelehnt sind sie an reale Vorfälle wie die Erschießung eines Ingenieurs
       1990, der sich in einer Reistonne versteckte, über den Mord einer Frau
       durch eine mechanische Säge bis zu einer Massenerschießung. Es sind
       Szenen, die Zuschauern vor Fassungslosigkeit Tränen in die Augen treiben.
       
       ## Antimuslimische Hassreden im Kino
       
       Andere befeuern sie zum Hass gegen Muslime. Bei Vorführungen in Indien kam
       es zu antimuslimischen Hassreden, was zugleich den Einfluss von Filmen auf
       die indische Gesellschaft verdeutlicht. Viele Millennials wissen im
       Übrigen wenig über die Vertreibung von Kashmiri Pandits in den 1990ern.
       
       Der 48 Jahre alte Regisseur des Films, Vivek Agnihotri, möchte mit seiner
       Interpretation des Kaschmirkonflikts jedenfalls weitere Zielgruppen
       erreichen. Daher ist er auf einer sogenannten Humanity Tour in
       Großbritannien, Deutschland und den Niederlanden.
       
       Begleitet wird er von seiner Frau und „The Kashmir Files“-Darstellerin
       Pallavi Joshi. Sie spielt eine verbissene Professorin an einer
       linksgerichteten Universität, die Kontakte zu radikalen Kräften in Kaschmir
       unterhält und Studierende für ihre Zwecke manipuliert, indem sie sie zum
       Beispiel dazu bewegt, für ein freies Kaschmir zu demonstrieren.
       
       ## Menschenrechtsverletzungen auch an anderen Volksgruppen
       
       Dieses Umfeld prägt den jungen Krishna Pandit. Zunächst ist er davon
       überzeugt, nur Muslime in Kaschmir litten unter der angespannten Situation.
       Im Laufe der Handlung erkennt Krishna jedoch, welches Unrecht Hindus
       angetan wurde, wie etwa seinen Eltern, die ermordet wurden, oder erfährt
       von seiner eigenen Vertreibung als Kleinkind, von der er lange nichts
       wusste. Er war mit der Lüge aufgewachsen, seine Eltern wären bei einem
       Unfall gestorben.
       
       Das soll den Zuschauenden zu verstehen geben, dass Hindus die
       Hauptleidtragenden in dem jahrzehntelangen Konflikt sind. Doch so einseitig
       ist die Geschichte nicht, es gab auch Menschenrechtsverletzungen an anderen
       Volksgruppen.
       
       Laut offiziellen Angaben kamen von 1988 bis 1991 über 200 Hindus aus der
       Zivilbevölkerung ums Leben. Die steigende Gewalt richtete sich damals wie
       heute gegen verschiedene Bevölkerungsgruppen wie Sikhs. Von 1990 bis 2021
       wurden nach Polizeiangaben 1.724 weitere Menschen von Militanten getötet,
       darunter 89 Kashmiri Pandits.
       
       Auch Muslime in Kaschmir litten unter Terrorismus. Unterdessen versuchen
       indische Sicherheitsbehörden, die Lage und damit separatistische
       Bestrebungen vereinzelt mit harten Maßnahmen unter Kontrolle zu bringen. Es
       kommt regelmäßig zu tödlichen Zusammenstößen mit mutmaßlichen Terroristen.
       
       ## Interreligiöse Spannungen in Indien
       
       „Dies ist ein Film für Menschen, und er muss Menschen gezeigt werden“,
       äußerte sich Pallavi Joshi bei einer der ersten Vorführungen in
       Großbritannien. Sie betont, es sei für sie und ihren Mann eine Mission, die
       sie fortführen würden. Es gehe nicht um Religion, sondern um Humanität,
       sagte sie in einem anderen Video, das sie auf Instagram teilte.
       
       Bei Auftritten wurden Agnihotri und Joshi mit affirmativen Transparenten
       mit der Aufschrift „Hindu lives Matter“ empfangen. Aufgrund der aktuellen
       interreligiösen Spannungen in Indien außerhalb Kaschmirs, die sich gegen
       Muslim:innen richten, wirkt so ein Slogan verzerrend.
       
       Die Filmemacher:innen haben gleichwohl einen wunden Punkt getroffen.
       [1][Nach der Unabhängigkeit Indiens 1947] wurde das damalige Fürstentum
       Kaschmir von drei angrenzenden Nachbarn – China und den neu gegründeten
       Nationalstaaten Pakistan und Indien – beansprucht. Der indische Teil
       Kaschmirs hat seit Jahrhunderten eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung,
       die sich im vorwiegend hinduistischen Indien unterdrückt fühlt, da die
       Regierung mitunter hart gegen Aufständische vorgeht.
       
       ## Ein komplexer Konflikt
       
       [2][Die Gewalt im Kaschmirtal ließ viele – damals wie heute erneut –
       fliehen]. Manche kaschmirische Hindus fühlen sich zu Recht von der
       indischen Regierung im Stich gelassen. Sie harrten zum Beispiel in
       Flüchtlingslagern aus, verloren ihr Hab und Gut. Später wurden
       Wiederansiedlungsprogramme ins Leben gerufen. Doch es bleibt ein komplexer
       Konflikt mit vielen Leidtragenden auf verschiedenen Seiten. Und erneut sind
       dieser Wochen und Monate Berichte aus Kaschmir zu lesen, dass gezielt
       Arbeitskräfte aus anderen Bundesstaaten sowie kaschmirische Hindus getötet
       werden.
       
       Mit Protesten machten Hindus kürzlich auf ihre unsichere Lage aufmerksam
       und forderten, dass sie in sichere Regionen versetzt werden. Es scheint,
       dass weder der Film noch die jüngsten Reformen in Kaschmir – wie die
       Teilung des Bundesstaats 2019 in die beiden Unionsterritorien Kaschmir und
       Ladakh und damit die Aufhebung des Sonderstatus – geholfen haben, dass Ruhe
       in die Region einkehrt.
       
       Kritische Stimmen beklagen, dass „The Kashmir Files“ der Agenda von
       Hindunationalisten in die Hände spielt. In mehreren Bundesstaaten, die von
       der hindunationalistischen Volkspartei BJP regiert werden, wurde der Film
       steuerbefreit. Premierminister Narendra Modi wie hohe Minister seiner
       BJP-Regierung lobten den Film. Unbestritten ist immerhin: „The Kashmir
       Files“ hat nicht nur in Indien zu geteilten Meinungen geführt, auch unter
       Kashmiri Pandits.
       
       17 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Natalie Mayroth
       
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