# taz.de -- Debattenkultur der Documenta: Deutsche Gastfreundschaft
> Der Umgang der Documenta mit ihren Kurator_innen wirft eine Frage auf:
> Wozu ruft man Gäste, die man nicht hosten kann?
IMG Bild: Teil der interaktiven Installation „Die Allesbrücke“
Kürzlich kursierte auf Social Media eine Europakarte, auf der zu erkennen
war, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, im jeweiligen Land bei Leuten zu
Hause Essen angeboten zu bekommen. Überrascht hat mich, dass Deutschland
gar nicht am schlechtesten, sondern nur am zweitschlechtesten abgeschnitten
hat. Abwärts von Kassel ist die Bundesrepublik nämlich rosa gefärbt, was
bedeutet, dass es lediglich „unwahrscheinlich“ sei, dass man Ihnen Essen
anbieten wird. Von Niedersachsen aufwärts allerdings ist es laut Grafik
„sehr unwahrscheinlich“, sowie in ganz Skandinavien, Stichwort:
[1][#Swedengate].
Doch Verpflegung ist ja nicht der einzige Aspekt, der aufmerksame
Gastgeber_innen auszeichnet. Da wäre noch die Kunst der anregenden
Gesprächsführung, die aufrichtiges Interesse am Gegenüber zeigt und offen
für Diskussionen ist. Konflikte können und sollten nicht vermieden werden,
aber wenn ein Minimum an Respekt nicht gewährleistet werden kann, weil ein
Grundkonsens fehlt, bleibt die Frage, ob es so eine gute Idee ist, sich
diese Leute einzuladen. Sprich: Wozu ruft man Gäste, die man nicht hosten
kann?
Diese Frage spukt mir zur Eröffnung der Documenta durch den Kopf. Alle fünf
Jahre nur ist die internationale Kunstwelt zu Gast im überschaubaren
Kassel, dieses Jahr kuratiert [2][das indonesische Kollektiv Ruangrupa] die
Ausstellung. Das Kurator_innenteam steht bereits seit drei Jahren fest,
mindestens so lange hatte die Institution Documenta also Zeit, sich auf
ihre Gäste und auch deren Gäste, die ausstellenden Künstler_innen,
vorzubereiten.
Man hätte ihnen das Ankommen erleichtern können, indem man potenzielle
Konflikte früh benennt und strategisch aufzufangen versucht. Nichts deutet
im Moment darauf hin, dass die Documenta sich seit 2019 auch nur einen
Gedanken darüber gemacht hat.
Und wie zu erwarten war, wurde in der deutschen Öffentlichkeit seit Anfang
dieses Jahres die Nähe einiger Kurator_innen und Künstler_innen [3][zum BDS
problematisiert]. Die Organisation, die mitunter zum kulturellen Boykott
gegen Israel aufruft, wird in Deutschland zu Recht sehr viel kritischer
betrachtet als in anderen Teilen der Welt. Fakt ist, dass Kritik an der
israelischen Besatzungspolitik oft mit [4][antisemitischer Rhetorik]
einhergeht und damit gekonnt von anderen Staaten in der Region ablenkt, die
regelmäßig [5][Menschen-] und [6][Völkerrecht verletzen]. Trotzdem ist die
Annahme, jeder einzelne BDS-Unterstützer auf dieser Welt sei ein
überzeugter Antisemit, der Vernichtungsfantasien gegenüber Israel hege und
sich mit Faschisten solidarisiere, überzogen und [7][umstritten].
Man hätte sich klar abgrenzen und inhaltlich Stellung beziehen können zur
Kritik. Doch in ihrem Umgang mit der Debatte gleicht die Documenta eher
einem schlecht organisierten Kindergeburtstag auf einer Schießsportanlage
als der größten Kunstschau der Welt.
Erst wurden alle Antisemitismus-Vorwürfe [8][pauschal und unbegründet
abgestritten], dann wollte man die konkreten Positionen doch noch in einer
Gesprächsreihe erörtern und sagte nach Kritik an der Besetzung schließlich
auch [9][dieses Gesprächsformat ab]. In der Aufbauphase brachen nachts
Unbekannte in Ausstellungsräume ein und [10][taggten bedrohliche Codes an
die Wände]. In der Kasseler Innenstadt wurden an Fassaden Sprüche
projiziert, wie: „Hitler mag Ruangrupa & Kassel“ in guter, alter, deutscher
Frakturschrift.
Hätte man das alles verhindern können? Wer weiß. Sicherlich hätte man alle
Beteiligten besser beraten und schützen können. Oder sich eben früh genug
eingestehen, dass man nicht in der Lage ist, [11][die Welt in Kassel zu
begrüßen]. Unter solchen Umständen ist eine nuancierte Diskussion über das
Thema hierzulande jedenfalls, gelinde gesagt, so unwahrscheinlich wie ein
Extrateller am bereits gedeckten Tisch.
18 Jun 2022
## LINKS
DIR [1] https://www.sueddeutsche.de/panorama/swedengate-schweden-twitter-reddit-essen-nachbarskinder-1.5597460
DIR [2] https://www.monopol-magazin.de/ruangrupa-documenta-soll-hoffnung-und-positivitaet-vermitteln
DIR [3] /Politisierung-auf-der-documenta-15/!5856408
DIR [4] /Antisemitismus-in-Deutschland/!5812743
DIR [5] /Menschenrechte-im-Iran/!5791117
DIR [6] /Tuerkischer-Krieg-gegen-die-Kurden/!5857878
DIR [7] /Verstaendnis-von-Antisemitismus/!5758138
DIR [8] https://www.zeit.de/news/2022-01/19/documenta-gesellschaft-weist-antisemitismus-vorwuerfe-zurueck
DIR [9] https://www.spiegel.de/kultur/documenta-in-der-krise-debattierrunden-abgesagt-a-cf973ca3-add3-46fd-a76e-392d5a7b1e46
DIR [10] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/brandsaetze-vandalismus-auf-der-documenta-15-18073988.html
DIR [11] https://www.zeit.de/kultur/kunst/2022-06/documenta-15-postkoloniale-theorien-kunst-kontextualisierung
## AUTOREN
DIR Fatma Aydemir
## TAGS
DIR BDS-Movement
DIR Kolumne Red Flag
DIR Documenta
DIR Schwerpunkt Rassismus
DIR Kolumne Red Flag
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DIR Diversity
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