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       # taz.de -- Ukraine als Beitrittskandidat empfohlen: Vom Krieg in die EU?
       
       > Deutschland, Frankreich, Italien und Rumänien wollen, dass die Ukraine
       > EU-Beitrittskandidat wird. Doch wie soll das Land die Auflagen dafür
       > erfüllen?
       
   IMG Bild: Während des Kriegs wird der mögliche Beitritt der Ukraine zur EU verkündet
       
       Brüssel taz | Vier Männer mit Anzug und Krawatte – und einer im
       khakifarbenen Kampfdress. Das ist das Bild, das in die europäische
       Geschichte eingehen wird. Es zeigt Olaf Scholz, Emmanuel Macron, Mario
       Draghi und Klaus Iohannis (die Männer im Anzug) mit dem ukrainischen
       Präsidenten Wolodimir Selenski vor dessen Amtssitz in Kiew. Kurz nach dem
       Fotoshooting besprechen die fünf am Donnerstag einen historischen Vorgang:
       den möglichen Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union.
       
       Scholz gibt eine – für seine Verhältnisse – gewagte Entscheidung bekannt.
       „Wir sind heute mit einer klaren Botschaft nach Kiew gekommen: Die Ukraine
       gehört zur europäischen Familie“, sagt der für seine Zögerlichkeit bekannte
       SPD-Politiker. „Deutschland will eine positive Entscheidung zugunsten der
       Ukraine als EU-Beitrittskandidat.“
       
       Damit ist es raus. Die Ukraine soll in die Europäische Union, so schnell
       wie möglich. Den [1][Kandidatenstatus will Scholz] sogar sofort. „Das ist
       ein historischer Tag“, sagt Selenski später in einer Videobotschaft. „Die
       Ukraine hat die Unterstützung von vier mächtigen europäischen Staaten
       gespürt.“
       
       Doch wie soll ein Land in die EU kommen, das gerade in einem Krieg um sein
       Überleben kämpft? Wie soll man mit Kiew über 35 Beitrittskapitel und mehr
       als 100.000 Seiten des „Acquis“ – also des EU-Rechtsbestands – verhandeln,
       wenn es Bomben und Raketen aus Russland hagelt?
       
       ## Scholz will nicht über Panzer sprechen
       
       Rechte Freude will beim Treffen in Kiew nicht aufkommen. Scholz ist kaum in
       Kiew eingetroffen, da gibt es Luftalarm. Später schaut er sich die Trümmer
       im Kiewer Vorort Irpin an. Die [2][Lage ist ernst], der Kanzler blickt
       betroffen. Noch ist nichts gewonnen.
       
       Auch in Berlin hat sich die Lage nicht beruhigt. Im Gegenteil, es gibt
       Kritik: Die Ukraine brauche nicht nur eine europäische Perspektive, sondern
       endlich auch deutsche Waffen, schimpft die Opposition. „Angesichts des
       täglichen Massensterbens im Donbass und des russischen Vormarsches wäre es
       bei diesem Besuch höchste Zeit gewesen, endlich eine klare Zusage für die
       unmittelbare Lieferung schwerer Waffen zu geben“, sagt Unionsfraktions-Vize
       Johann Wadephul.
       
       Diese [3][Zusage hat Olaf Scholz nicht gegeben], wieder nicht. Über
       Leopard-1-Kampfpanzer und Marder-Schützenpanzer, die der ukrainische
       Botschafter Andrij Melnyk fordert, möchte der Bundeskanzler nicht reden. Er
       will sich auf den EU-Beitritt konzentrieren, das ist seine zentrale
       Botschaft.
       
       Die EU steht dabei vor einem Dilemma. Einerseits hat sie der Ukraine schon
       im März, bei einem Sondergipfel in Versailles, die Aufnahme in die
       „europäische Familie“ versprochen. Andererseits ist der EU-Beitritt für
       Kremlchef Wladimir Putin ein rotes Tuch – er könnte den Konflikt noch mehr
       anheizen.
       
       Die europäische Geschichte mahnt zur Vorsicht. Nie wieder Krieg, nie wieder
       militärische Konflikte: Das ist das historische Credo der Europapolitik,
       von Robert Schuman bis Jean-Claude Juncker. Es war auch ein eherner
       Grundsatz der Erweiterungspolitik, jedenfalls bisher. Man dürfe sich keine
       unlösbaren Probleme ins Haus holen – das sagte schon Günter Verheugen, der
       Vordenker des „Big Bang“, also der großen EU-Erweiterungsrunde 2004.
       
       ## Plädoyer der „großen Drei“ wiegt schwer
       
       Gehalten hat er sich nicht daran. Unter den zehn Ländern, die Verheugen auf
       einen Schlag in den europäischen Klub aufnahm, war auch Zypern – die
       geteilte Mittelmeerinsel, deren Norden von der Türkei beansprucht wird. Der
       Beitritt werde die Wiedervereinigung bringen, dachte man damals. Doch das
       Problem ist bis heute nicht gelöst. Zypern und die Türkei stehen sich
       feindlicher gegenüber denn je.
       
       Und nicht nur im Mittelmeer gibt es Spannungen. Auch auf dem Westbalkan
       brodelt es. Zwanzig Jahre nach den Balkankriegen warten Länder wie Albanien
       oder Nordmazedonien immer noch auf die versprochenen Beitrittsgespräche mit
       Brüssel.
       
       Wird die Ukraine das neue Zypern, mit verlorenen Gebieten und Grenzzäunen?
       Holt sich die EU einen unlösbaren Konflikt ins Haus, noch dazu mit dem
       atomwaffenstarrenden Angstgegner Russland? Und sind die Länder des
       Westbalkans die Dummen, finden sie erst Gehör, wenn es wieder knallt?
       
       Das sind die Fragen, die die Staats- und Regierungschefs beantworten
       müssen, wenn sie am kommenden Donnerstag und Freitag in Brüssel zum Gipfel
       zusammenkommen. Dann steht die Erweiterungspolitik ganz oben auf der
       Tagesordnung.
       
       Eigentlich wollten sie sich bei ihren Beratungen auf eine solide Grundlage
       stützen. Die EU-Kommission sollte herausfinden, ob die Ukraine die
       Voraussetzungen für einen Beitritt erfüllt, und eine Empfehlung abgeben.
       Doch nun sind Scholz, Macron, Draghi und Iohannis vorgeprescht. Das
       Plädoyer der „großen Drei“ Deutschland, [4][Frankreich und Italien sowie
       Rumäniens] wiegt schwer. Skeptiker wie Portugal, die Niederlande oder
       Österreich sind schon vor Beginn der Debatte in der Defensive.
       
       ## Bis alle Auflagen erfüllt sind, könnten Jahrzehnte vergehen
       
       Zudem drängt auch [5][Ursula von der Leyen] auf eine „europäische
       Perspektive“. Für die Chefin der EU-Kommission ist der Beitritt ein
       Herzensanliegen. Erst lieferte sie die nötigen EU-Formulare persönlich bei
       Selenski ab. Am vergangenen Wochenende reiste sie dann erneut nach Kiew, um
       Druck zu machen. Der EU-Gipfel müsse eine Linie finden, „die die Tragweite
       dieser historischen Entscheidungen widerspiegelt“, sagte von der Leyen auf
       der Rückreise. „Ich hoffe, dass wir in zwanzig Jahren, wenn wir
       zurückblicken, sagen können, dass wir das Richtige getan haben.“
       
       Do the right thing – das kann eigentlich nur Beitritt bedeuten. Tatsächlich
       hat die EU-Kommission am Freitag den Kandidatenstatus empfohlen. Außerdem
       empfahl die Kommission, auch der Republik Moldau den Status eines
       EU-Beitrittskandidaten zu verleihen. Auch eine Bewerbung Georgiens wurde
       geprüft. Die Kaukasusnation müsse jedoch erst weitere Bedingungen erfüllen,
       hieß es.
       
       Bis zur Aufnahme der Ukraine und der Republik Moldau ist es jedoch ein
       weiter und steiniger Weg. Der Start von Beitrittsverhandlungen muss von
       allen siebenundzwanzig EU-Staaten einstimmig gebilligt werden. Danach muss
       die Ukraine zeigen, dass sie die sogenannten Kopenhagener Kriterien
       erfüllt. Sie wurden 1993 formuliert und sollen sicherstellen, dass ein
       Kandidat politisch, wirtschaftlich und rechtlich auf der Höhe ist.
       
       ## Die Kandidatur ist noch lange kein Beitritt
       
       Demokratie, Rechtsstaat, Marktwirtschaft und Korruptionsbekämpfung: Das
       werden die großen Themen. Für ein Land unter Kriegsrecht eine schier
       unlösbare Aufgabe. Bis alle Auflagen erfüllt sind, könnten Jahrzehnte
       vergehen, warnt Macron. „Hier geht es um Hoffnung“, sagt Scholz.
       
       Doch die Hoffnung kann auch enttäuscht werden. Der Kandidatenstatus ist
       keine Garantie für eine Annäherung an die EU, wie das Beispiel Türkei
       zeigt. Das Land ist schon seit 1999 Beitrittskandidat, doch erst sechs
       Jahre später wurden die Verhandlungen aufgenommen. Heute liegen sie auf Eis
       – unter Recep Tayyip Erdoğan und seinem islamischen Regime ist keine
       Verständigung möglich.
       
       Zur Vorsicht mahnen auch Bulgarien und Rumänien. Sie wurden 2007 in die EU
       aufgenommen, obwohl sie die Vorgaben bei Justiz und Korruption noch längst
       nicht erreicht hatten. Das Ergebnis: Beide Länder unterliegen noch heute,
       fünfzehn Jahre später, einer speziellen Kontrolle.
       
       Und Bulgarien blockiert nun auch noch die geplanten EU-Beitrittsgespräche
       mit Albanien. Ein Trauerspiel – und eine Mahnung für die EU, die alten
       Fehler nicht noch mal zu machen: Wenn Geopolitik wichtiger wird als
       Demokratie und Rechtsstaat, so die Lektion, kann das heikel werden.
       
       17 Jun 2022
       
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