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       # taz.de -- berliner szenen: Kein gutes Ende für die Taube
       
       Es ist noch früh am Morgen, und wir stehen vor der Tür der Arztpraxis in
       diesem stadtbekannten Hochhauskomplex. Du musst vorbei an der Ecke, wo sich
       die Fixer den Schuss setzen; einen sah ich mal dort vor dem Fenster eines
       Geschäfts liegen. Ich ging rein und meinte: Da stirbt einer. Der Verkäufer
       meinte: „Den kenn ick.“
       
       Touristen aus aller Welt sehnen sich nach diesem Ort; Sterben, wo andere
       Urlaub machen. Die Polizei wird hier eine eigene Wache bekommen. Die
       Vernichtung wartet auch diesmal in diesem schmalen Gang. Eine Taube torkelt
       umher. Was mag sie nur haben? Als sie sich umdreht, sieht man, dass ihr die
       Schwanzfedern fehlen, dort klafft ein knallrotes, ein blutiges Loch. Die
       anderen Tauben schwärmen durch die Luft, diese hier nicht. Nun sitzt sie
       ruhig. Das tut sie auch nach meinem Arztbesuch („Also das hier ist jetzt
       okay, aber das da sollten Sie mal checken“) noch. Aber sie hat Gesellschaft
       bekommen. Eine Krähe schaut sich erst vom Dach, dann vom Boden aus an, was
       hier los ist. Was tun, der Biologie ihren Lauf lassen? Das Tierheim
       anrufen? In die Natur pfuschen, von der es hier so viel nicht gibt? Wenn
       wir das hier stören, wird sie vielleicht jemand anderes killen.
       
       Nun hackt sie der Taube mit dem Schnabel immer wieder in das Loch, beginnt
       sie bei lebendigem Leib aufzufressen, langsam und von hinten. Die Taube
       kämpft, springt immer wieder außer Reichweite. Die Krähe so: hüpft immer
       wieder mal eine Runde, schaut nach allen Seiten, ob da wer kommt und stört
       oder ob sonst was los ist. Dann hackt sie wieder rein.
       
       Im Hof nebenan stand ein Baum, da brütete ein Taubenpärchen, als die Krähe
       kam. Sie machte sich über die Taubenkinder her. Die Eltern hatten es zur
       Kenntnis zu nehmen. Und auch heute nimmt es keinen guten Lauf für die
       Taube. Für die Krähe schon. Jürgen Kiontke
       
       20 Jun 2022
       
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   DIR Jürgen Kiontke
       
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