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       # taz.de -- Soziale Gerechtigkeit: Landsleute mit ins Boot holen
       
       > Rund 13 Millionen Menschen leben in strukturschwachen Regionen. Ihre
       > Situation und Expertise sollten bei der großen Transformation eine Rolle
       > spielen.
       
   IMG Bild: Öffentlicher Personennahverkehr auf dem Land in Bayern
       
       Der Begriff „Diversität“ steht im politischen Diskurs für einen bewussten
       und respektvollen Umgang mit Verschiedenheit und Individualität. Für die
       völkische AfD ist er ein Graus. Deutlich wird dies unter anderem an einem
       Beitrag in ihrem Mitgliedermagazin aus dem vergangenen Sommer. Dieser ist
       zynisch betitelt mit „Diversität bei Autos erhalten!“ Zusammengefasst
       lautet die Kernbotschaft sinngemäß:
       
       „Die Großstadt Berlin gibt Geld aus, das sie nicht hat, für sinnlosen und
       fiesen Klimaschutz, der nichts bringt, außer dass die Armen verarmen. Wählt
       die AfD, damit ihr weiter Diesel und Benziner fahren könnt.“ In dem kurzen
       Artikel sind die Spaltungsversuche einfach zu erkennen: (Groß-)Stadt versus
       Land, Reich versus Arm, Klimaschutz versus Freiheit. Diese Lesart der
       Klimapolitik mag bei der Kernklientel der Rechtspopulisten funktionieren.
       
       Diese Erzählung vom vermeintlichen Gegensatz zwischen scheinbar linksgrüner
       Stadt- und scheinbar konservativer Landbevölkerung passt zur Politik der
       einfachen Antworten der Rechtspopulist:innen. Sie darf sich aber nicht in
       anderen politischen Lagern breitmachen, denn sie gefährdet ein zentrales
       Ziel: die Bekämpfung sozialer Ungleichheiten im Rahmen der Klimapolitik.
       
       Eine [1][Befragung der ARD] zeigte: „81 Prozent der Deutschen sehen sehr
       großen oder großen Handlungsbedarf beim Klimaschutz – über Alters- und
       Parteigrenzen hinweg.“ Auch in extrem strukturschwachen Regionen
       Deutschlands, in Ost und West, ganz gleich ob Stadt oder Land, stehen
       Umweltthemen weit oben auf der Liste der Themen, die die Menschen für
       wichtig halten.
       
       ## Ernstzunehmende Zukunftssorgen
       
       Im Rahmen der Studie „[2][Die Übergangenen – strukturschwach &
       erfahrungsstark]“ führten wir in Kooperation mit der
       Friedrich-Ebert-Stiftung über 200 Haustürgespräche im Ruhrgebiet,
       Vorpommern-Greifswald, im Regionalverband Saarbrücken und
       Bitterfeld-Wolfen. Auf die Frage, was die großen Herausforderungen der
       Zukunft sind, nahmen Umwelt- und Klima den zweiten Platz ein, knapp hinter
       sozialen Herausforderungen.
       
       Während Sorgen rund um die [3][Klimakrise] die Menschen sehr beschäftigen,
       bleibt ein Thema noch wichtiger: soziale Verwerfungen und Schieflagen. Vor
       allem dann, wenn man das direkte Lebensumfeld der Menschen aus
       strukturschwachen Räumen in den Blick nimmt. Nach den konkreten
       regionalbezogenen Zukunftssorgen gefragt, wird der Klimaschutz kaum noch
       genannt.
       
       Mit beispiellosen Abstand rangieren die Antworten auf Platz eins, die mit
       „[4][Abgehängtsein]“ zusammengefasst werden können („keine Nahversorgung“,
       „kein Nahverkehr“, „stark verschuldet“). Auffällig war bei den Befragungen
       außerdem, dass die Menschen nicht die Sorge davor haben, eines Tages
       abgehängt zu werden, sondern in Zukunft abgehängt zu bleiben.
       
       Menschen in strukturschwachen Regionen ist die Bedeutung des bevorstehenden
       sozial-ökologischen Wandels durchaus bewusst. Unsicherheit besteht jedoch
       darüber, ob sie Benachteiligte oder Profiteur:innen des Umbruchs sein
       werden. Die Menschen erwarten nicht einfach eine Bewältigung des
       Klimawandels, sondern eine sozial verträgliche Bewältigung des
       Klimawandels.
       
       ## Wider die Spaltungsversuche
       
       Der Blick in die Zukunft ist geprägt durch die Erfahrungen der
       Vergangenheit und diese sind nicht rosig. Politische Versprechen und
       wirtschaftliche Aussichten gingen zu häufig nicht auf. Viele leiden unter
       dem Eindruck, übergangen worden zu sein. Das Vertrauen in die politischen
       Repräsentant:innen ist durch Skepsis geprägt. Die Hälfte der Befragten
       winkt kategorisch ab bei der Frage, welche Partei oder welche:r
       Politiker:in sich denn wirklich um die Sorgen der Menschen kümmere.
       
       Diese Ergebnisse könnten erst einmal hoffnungslos stimmen. Müssen sie aber
       nicht. Denn auch wenn das Vertrauen in Politiker:innen marode ist,
       glaubt die Mehrheit der Befragten, dass die Demokratie den wirtschaftlichen
       und gesellschaftlichen Wandel meistern kann. Mit der neu gewählten
       Ampelregierung bietet sich die historische Chance, das Ruder bei der
       Klimapolitik noch rechtzeitig herumzureißen, und zum anderen die
       Gelegenheit, strukturschwache Räume zu Gestalter:innen des Wandels zu
       machen.
       
       Dafür braucht es Geld, Gestaltungsmacht und Gehör. So würden die
       Versäumnisse der Vergangenheit, die strukturschwache Räume mit zu dem
       gemacht haben, was sie heute sind, nicht wiederholt und das Vertrauen in
       demokratische Prozesse und politische Repräsentant:innen gestärkt. Die
       Bundesregierung kann es sich nicht erlauben, die [5][13 Millionen Menschen
       zu übergehen, die in strukturschwachen Regionen leben].
       
       Diese Menschen haben einerseits Anspruch auf gleichwertige
       Lebensverhältnisse, zum anderen verfügen sie oftmals über Erfahrungen mit
       Transformation und Wandels, weil sie in jüngster Vergangenheit damit zu tun
       hatten. Die weitreichende Chance der großen Transformation liegt darin,
       dass sie auf dem Weg hin zu einer klimaneutralen Gesellschaft
       Ungleichheiten ausgleicht und Menschen an der Zukunftsgestaltung teilhaben
       lässt.
       
       Denn Klimaschutz und soziale Ungleichheiten müssen nicht um Wichtigkeit
       konkurrieren. Jedoch sind die aktuellen Spannungen rund um die Klimapolitik
       real, und das Potenzial zur Spaltung, das die AfD bespielt, ist nicht zu
       unterschätzen. Bei seiner Wiederantrittsrede warnte [6][Bundespräsident
       Frank-Walter Steinmeier]: „Ich fürchte, die Gegner der Demokratie werden
       auch nach dem Ende der Pandemie nicht leiser werden.
       
       Sie werden sich neue Themen suchen und vor allem neue Ängste, von denen es
       reichlich gibt in dieser Zeit (…) sie werden es tun mit dem großen Thema
       unserer Zeit: dem Kampf gegen den Klimawandel.“ Um den Spaltungsversuchen
       entgegenzutreten und die Ziele der großen Transformation zu erreichen,
       müssen Betroffene zu Profiteur:innen gemacht werden. Anfangen sollten
       wir damit in den strukturschwachen Regionen.
       
       Das Progressive Zentrum und die Friedrich-Ebert-Stiftung stellen [7][die
       Studie] am Montag um 18 Uhr in Berlin vor.
       
       20 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschlandtrend-2699.html
   DIR [2] https://www.fes.de/studie-die-uebergangenen
   DIR [3] /Schwerpunkt-Klimawandel/!t5008262
   DIR [4] /OePNV-auf-dem-Land/!5807353
   DIR [5] https://kommunal.de/strukturschwache-regionen-studie
   DIR [6] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw06-bundesversammlung-rede-steinmeier-880568
   DIR [7] https://www.fes.de/studie-die-uebergangenen
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Paulina Fröhlich
   DIR Florian Ranft
       
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