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       # taz.de -- Selbstbestimmt leben: Abtreiben bleibt schwierig
       
       > Paragraf 219a wird nun gekippt. In Berlin bleibt jedoch der Zugang zu
       > Schwangerschaftsabbrüchen weiterhin kompliziert und teuer.
       
   IMG Bild: Für das Recht auf körperliche Selbstbestimmung beim Frauenkampftag 2021 in Berlin
       
       Wenn Paragraf 219a am Mittwoch aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wird,
       werden Frauenärzt*innen und Leiter*innen von Beratungsstellen in
       Berlin zwar aufatmen. Der Paragraf hatte es untersagt, für
       Schwangerschaftsabbrüche zu „werben“ – und kam in der Praxis einem
       Informationsverbot gleich. Doch mit seinem Wegfall sind längst nicht alle
       Probleme um Schwangerschaftsabbrüche vom Tisch, betont Jutta Pliefke,
       Frauenärztin im Beratungszentrum Balance, am Montag bei einem
       Pressegespräch anlässlich der Streichung von 219a. „Ein Hauptproblem
       bleibt: [1][Schwangerschaftsabbrüche sind weiter über das Strafgesetzbuch
       geregelt]. Frauen, die zu uns in die Beratung kommen, haben dadurch oft das
       Gefühl, dass sie etwas Verbotenes machen. Dabei sollten Abbrüche Teil der
       Gesundheitsfürsorge sein.“
       
       Pliefke kritisiert zudem die Wartezeit. Wer sich für einen Abbruch
       entscheidet, muss nach einem verpflichtenden Beratungsgespräch drei Tage
       Bedenkzeit verstreichen lassen. „Die Zeit fehlt oft später“, sagt sie.
       Eigentlich hätten die Frauen das Recht, die Art des Eingriffs – operativ
       oder medikamentös – selbst zu bestimmen. „Diese Wahlfreiheit ist bedroht,
       wenn es etwa für bestimmte Methoden zeitlich zu knapp wird.“
       
       In Berlin werden rund 10.000 Schwangerschaftsabbrüche pro Jahr
       durchgeführt. Die Zahl sei seit Jahren etwa gleichbleibend, berichtet
       Christine Tennhardt, ebenfalls Gynäkologin und im Vorstand vom Netzwerk
       Ärztinnen for Choice Berlin, das sich für Selbstbestimmung in der
       Familienplanung einsetzt. „Mehr als die Hälfte der Abbrüche sind
       medikamentös“, sagt sie. Im Vergleich mit anderen Bundesländern liegt
       Berlin demnach mit rund 10 Schwangerschaftsabbrüchen auf 1.000 Frauen ganz
       vorn. Vermutlich ziehe die Metropole auch Frauen von außerhalb an, so
       Tennhardt.
       
       ## Liste mit Praxen
       
       Im Vergleich mit anderen Bundesländern sei auch die Zahl der Praxen über
       die Jahre gleichbleibend – ein Umstand, der laut pro Familia auch der
       vergleichsweise starken politischen und verbandlichen Lobbyarbeit zu
       verdanken ist. Die Gesundheitsverwaltung stellt seit einigen Jahren eine
       [2][Liste zusammen von Praxen, die den Eingriff durchführen]. Derzeit hat
       sie 127 Einträge.
       
       „Wir würden es begrüßen, wenn auch die Kliniken verlässlich Abbrüche bei
       medizinischen Indikationen durchführen würden“, sagt Pliefke, das sei in
       Berlin nicht bei allen der Fall. „Besonders wenn es schwierigere Fälle und
       größere Eingriffe sind, müssten die in einer Klinik durchgeführt werden“,
       ergänzt Sibylle Schreiber, Landesgeschäftsführerin von pro Familia Berlin.
       „Aber zum Teil finden die Beratungsstellen keine Klinik.“ Darum müssten
       viele Frauen am Ende sogar ins Ausland für ihren Abbruch. Der
       Rechtsanspruch von Frauen auf einen Abbruch werde also auch in Berlin teils
       verhindert, „weil es niemand macht“, so Schreiber.
       
       Pliefke berichtet daher von einer Bewegung „Richtung Westen“: Einerseits
       würden Frauen aus [3][Berlin etwa in die Niederlande] reisen, um dort einen
       Abbruch durchzuführen. Andererseits kämen Frauen aus Polen nach Berlin, um
       hier einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu lassen. In Polen sind
       Abbrüche seit Anfang 2021 kaum noch möglich. „Jetzt kommen außerdem Frauen
       aus der Ukraine, die in Polen leben“, sagt Pliefke.
       
       ## Proteste vor Beratungsstellen
       
       Auch sonst gerieten Frauen leicht unter Druck: „Auch in Berlin hatten wir
       schon [4][Kundgebungen vor Beratungsstellen von
       Abtreibungsgegner*innen]“, berichtet Pliefke. „Das ist sehr belastend
       für die Frauen, die zu uns kommen, und kann traumatisierend wirken.“ In
       Hessen gebe es einen Erlass vom Innenministerium, wonach Beratungsstellen
       ungehindert zugänglich sein müssen. „Auch Berlin könnte verfügen, dass
       solche Demos außer Hör- und Sichtweite des Eingangs stattfinden müssen“,
       meint sie.
       
       Ein weiteres Problem sieht Pliefke in der Finanzierung – Abbrüche kosten
       200 bis 570 Euro und werden nicht von der Kasse übernommen. Wer wenig Geld
       verdient, kann die Kostenübernahme vom Land beantragen – das machen in
       Berlin im bundesweiten Vergleich besonders viele Frauen. „Da müssen sie
       aber sehr viel offenlegen, etwa die Miete, Einkommensnachweise, die
       Krankenkasse.“ Manche hätten Bedenken, dass Daten weitergegeben würden oder
       Dritte von der Schwangerschaft erfahren könnten, etwa weil sie
       familienversichert sind. „Das müsste einfacher geregelt werden“, fordert
       sie.
       
       Seit Dezember 2020 ist beim Beratungszentrum Balance außerdem ein
       [5][Pilotprojekt zu einem „Schwangerschaftsabbruch zu Hause“ angesiedelt]:
       Dabei werden Abtreibungspillen per Post versandt und der Abbruch selbst
       „telemedizinisch begleitet“. Die Organisation Women on Web möchte damit
       sichere und bezahlbare Zugänge zur Abtreibung bieten. Der Bedarf sei groß,
       sagt die Mitbegründerin und Gynäkologin Jana Maeffert, sie hätten bereits
       knapp 250 Anfragen. „Nicht alle landen auch bei uns“, sagt sie. „Aber viele
       sind erleichtert, wenn sie hören, dass es solche Möglichkeiten gibt.“
       
       Denn: je höher die Hürden, desto größer der Stress für die Betroffenen.
       „Der Zugang sollte wohnortnah und einfach sein. Wir sehen gerade nicht,
       dass sich die Politik wirklich dafür einsetzt“, sagt Tennhardt.
       
       21 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Streichung-des-Paragrafen-219a/!5826226
   DIR [2] https://www.berlin.de/sen/gesundheit/themen/schwangerschaft-und-kindergesundheit/schwangerschaft-und-familienplanung/schwangerschaftskonfliktberatung/arztpraxen-fuer-schwangerschaftsabbrueche/#simplesearch_form
   DIR [3] /Abtreibung-in-den-Niederlanden/!5834652
   DIR [4] /Abtreibungsgegnerinnen-in-Berlin/!5802335
   DIR [5] https://www.womenonweb.org/de/page/521/%C3%BCber-women-on-web
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uta Schleiermacher
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Paragraf 219a
   DIR Schwerpunkt Abtreibung
   DIR Schwangerschaft
   DIR Kristina Hänel
   DIR Schwerpunkt Paragraf 219a
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