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       # taz.de -- Debütroman über Aufwachsen in Südtirol: Wenn Wörter hässlich machen
       
       > Maddalena Fingerles Debütroman „Muttersprache“ kreist um eine scheinbar
       > bilinguale Welt. Ihr Protagonist leidet vor allem an dreckigen Wörtern.
       
   IMG Bild: Maddalena Fingerle, Autorin des Romans „Muttersprache“
       
       „Je mehr dreckige Wörter du in dir hast und aussprichst“, verlautet Paolo
       Prescher, der schillernde Protagonist aus Maddalena Fingerles Debütroman
       „Muttersprache“, „desto hässlicher bist du.“ Paolo Prescher leidet an sich
       und der Welt, von der er in radikaler Subjektivität erzählt: seiner Mutter,
       die nichts als Floskeln auf Lager habe, seinem Vater, der Aphasiker sei und
       gar nicht rede, und seiner Heimatstadt Bozen, die sich in ein falsches
       Gewand der [1][Zweisprachigkeit] kleide.
       
       „Aber ganz ehrlich, das stimmt gar nicht, dass wir Deutsch in der Schule
       lernen. Fast keiner in unserer Schule kann Deutsch, weil wir, ja genau wir,
       die deutsche Sprache ätzend finden, und auch wenn wir sie sprechen würden,
       dann könnten wir sie gar nicht benutzen, weil man hier im Dialekt
       spricht“, und den Dialekt, lernt Paolo von seinem Freund Jan, „konnsch net
       oanfoch so learnen, woasch? Des isch die Sproch von deine oagene Leit.“
       
       Zu seiner Schulzeit, erinnert sich der Moderator Jan Wasserfuhr in einem
       Gespräch mit der Autorin Maddalena Fingerle in Berlin, seien die
       Pausenpläne so getaktet gewesen, dass sich die italienischen und deutschen
       Schüler*innen nicht begegneten, denn: „Je besser wir trennen, desto
       besser verstehen wir uns.“ Südtirol, das sich gern als Schnittstelle zweier
       Kulturen verkauft, in Wirklichkeit jedoch
       Sprachgruppenzugehörigkeitserklärungen verlangt, ist jedoch nicht die
       einzige Nuss, die Paolo Prescher in „Muttersprache“ zu knacken hat.
       
       Auch das Klassische Lyzeum, in Italien ein gern aus dem tadellos gebügelten
       Hemdsärmel geschütteltes Ass und Aushängeschild für umfassende
       Allgemeinbildung, kommt kläglich bei ihm weg: „Es stimmt gar nicht, dass
       man die Klassiker liest am Klassischen Lyzeum. Nichts liest man bis zur
       letzten Seite am Klassischen Lyzeum, und man liest nichts wirklich am
       Klassischen Lyzeum.“
       
       ## Dreckiger Kontext
       
       Vielmehr sei Förderer*innen der Kultur daran gelegen, „einen Kontext
       herzustellen. In Bozen funktioniert es so: in Bozen stellt man einen
       Kontext her, man stellt immer für alles einen Kontext her, man stellt
       ständig einen Kontext her und man macht alles dreckig.“ Paolo Prescher, dem
       nichts mehr zuwider sein könnte als jene faule, verrottete Sprache, die all
       die Dinge, die sie nicht versteht, als „suggestiv“ oder „besonders“
       bezeichnet, zieht in Zweifel, was wir jeden Tag, ohne groß darüber
       nachzudenken, hinausposaunen.
       
       Paolo sieht genau hin, betrachtet die Wörter, dreht und wendet sie, um mehr
       und anders zu verstehen: „Wenn du die Wörter auseinandernimmst und die
       Buchstaben anschaust, dann sagen sie dir die Wahrheit. Die Buchstaben, wenn
       du sie dir nur genau genug anschaust, sind ehrlich, und sie verraten dir
       die Geheimnisse.“
       
       Kann es zum Beispiel Zufall sein, dass das italienische Wort für Mutter,
       madre, die exakt selben Buchstaben wie das italienische Wort für Scheiße,
       merda, aufweist? Paolo meint nein und verurteilt die Leute, die sich selbst
       „Kreative“, Kinder „Kreaturen“ und die Kacke des Hundes „Bedürfnis“ nennen:
       „Freiheit ist ein Bedürfnis des Hundes. Natur ist ein Bedürfnis des Hundes.
       Zuneigung ist ein Bedürfnis des Hundes. Doch die Kacke echt nicht. Die
       Kacke heißt Kacke. Bedürfnisse heißen Bedürfnisse.“
       
       Die Gleichschaltung der Gesten und Wörter, ihre unhinterfragte Hinnahme
       beklemmen ihn: „Die Zeremonie jagt mir Angst ein, die Wörter, die ich höre,
       die Selbstverständlichkeit, mit der alle das exakt Gleiche machen, jagt mir
       Angst ein, im selben identischen Augenblick, und ich spüre, dass sie
       Verbündete sind, ihnen ist eben gar nicht bewusst, wie gesteuert sie sind,
       von irgendetwas, es jagt mir auch Angst ein, wenn wir in der Schule
       aufstehen müssen, weil die Lehrerin hereinkommt, und mir kommt vor, ich bin
       ein Soldat.“
       
       ## Angst vor der Mehrheit
       
       Paolo Prescher möchte sich der Homogenität entziehen, nicht in die Mehrheit
       übergehen, anders reden, sich anders bewegen, verzögert, verschoben,
       verrückt, „um nicht Teil der Masse zu sein, die sich bewegt wie eine Welle
       im Gleichklang, bereit zu allem“. Die Welt verschmutzt Paolo die Wörter,
       die ihm Versicherung sind, eben weil sie, anders als die Menschen, sagen,
       was sie sind: „Ich kann nicht mehr Italienisch reden, ich muss andere,
       weniger dreckige Sprachen benutzen.“
       
       Paolo löst sein Glücksversprechen ein in Berlin, wo der italienische Teil
       in ihm drinnen redet und der deutsche draußen, die Rollen klar getrennt.
       Vielleicht, vermutet Paolo, haben in seinem Namen immer schon zwei Personen
       gesprochen, eine drinnen und eine draußen, „und nicht immer haben sie
       dasselbe gesagt.“
       
       Wenn er Deutsch spreche, sei er entspannter, und auch seine Stimme sei
       anders, „fast wie die Stimme einer anderen Person“. Es ist die Frage, die
       auch in Sprach- und Literaturkursen immer wieder diskutiert wird: Ist man,
       je nachdem, in welcher Sprache man spricht, oder, vielleicht auch, in
       welcher Sprache man liest, ein*e andere*r? Und worin genau besteht dieses
       Andere?
       
       In Muttersprache wird man als Lesende*r das Gefühl nicht los, es in der
       Übersetzung von Maria Elisabeth Brunner mit einem anderen Paolo zu tun zu
       haben: einem weniger dynamischen, minder drängenden, unschärferen Kerl.
       
       Und spätestens, wenn Paolos Erzählerstimme in der deutschen Übersetzung
       wiederholt von „dreckige[n] Wörter[n]“ („parole sporche“) spricht, und man
       wiederholt darüber stolpert und sich im Kopf sagt, dass es schmutzige
       Wörter heißen müsste, dass man fest davon ausgegangen war, dass es
       schmutzige Wörter heißen würde, weiß man, welchen (oft unterschlagenen)
       Stellenwert die Übersetzung eines literarischen Werks einnimmt.
       
       ## Anhang sorgt für Irritation
       
       Leider scheitert die deutsche Ausgabe dieses mitreißenden Debüts daran,
       Paolos Ideen bis in die Buchgestaltung hineinzutragen, indem auch sie einen
       Kontext herstellt: Jede einzelne literarische Referenz wird im Anhang
       ausklamüsert, ebenso wie die Anagramme der Figurennamen, gerade so, als
       wäre es zu viel verlangt, Leser*innen heute über [2][Houellebecq]-,
       Tasso- oder Marino-Zitate stolpern zu lassen.
       
       Im schlimmsten Fall – und wäre dieser wirklich so schlimm? – fallen sie
       nicht auf, werden die intertextuellen Verweise schlicht überlesen. Dieses
       Risiko sollte eingegangen werden, wenn die Alternative bedeutet,
       Leser*innen wie Unmündige an der Hand zu halten.
       
       21 Jun 2022
       
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