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       # taz.de -- Untersuchungsausschuss zu Afghanistan: Kabul noch nicht ganz vergessen
       
       > Der Bundestag bringt den Untersuchungsausschuss zum desaströsen
       > Truppenabzug aus Afghanistan auf den Weg. Der Linken geht er nicht weit
       > genug.
       
   IMG Bild: Geflüchtete aus Afghanistan landen mit einer Maschine aus Taschkent in Frankfurt, August 2021
       
       Berlin taz | Sabur M. gehört zu denen, die mit dem deutschen
       Afghanistaneinsatz noch nicht abschließen konnten. Der Münchner hat
       Verwandte in Kabul. Als ab Juni 2021 die Taliban immer mehr afghanische
       Provinzen eroberten und Ortskräfte in die Hauptstadt flohen, stellte die
       Familie fünf ihrer Wohnhäuser als Unterkunft zur Verfügung. Als die Taliban
       am 16. August auch Kabul einnahm, mussten die Helfer selbst untertauchen:
       Für die Islamisten, so M., sind seine Verwandten Kollaborateure des
       Westens.
       
       „Sie haben sich für unsere Interessen und Werte eingesetzt. Jetzt werden
       sie im Stich gelassen“, sagt M. Einen Platz in deutschen Evakuierungsflügen
       haben seine Verwandten nämlich nicht bekommen. Die Bundesregierung lehnt
       ihre Aufnahme bis heute ab.
       
       Wem [1][hat Deutschland nach der Machtübernahme der Taliban geholfen], wem
       nicht, und wer hat nach welchen Kriterien entschieden? Das sind ein paar
       der Fragen, mit denen sich ab Herbst ein Untersuchungsausschuss im
       Bundestag beschäftigen wird. Der Einsetzungsantrag wird am Donnerstag
       erstmals im Plenum beraten, am 7. Juli steht er zur Abstimmung. Die
       parlamentarische Sommerpause wollen die Abgeordneten nutzen, um erste
       Regierungsakten zu studieren, so dass ab September die Ausschusssitzungen
       und Zeugenbefragungen starten können.
       
       Schon im vergangenen Sommer [2][hatten FDP und Grüne aus der Opposition
       heraus gefordert], den chaotischen Abzug aus Afghanistan parlamentarisch
       aufzuarbeiten. In den Koalitionsverhandlungen hielten sie daran fest, die
       SPD stimmte zu, die Union holte man schließlich auch noch ins Boot. Die
       Koalition hat den U-Ausschuss also mit der größten Oppositionsfraktion in
       die Wege geleitet – eine seltene Konstellation.
       
       Ursprünglich sollte die Arbeit schon vor Monaten beginnen. Der Ukrainekrieg
       hat Afghanistan aber nicht nur aus der öffentlichen Aufmerksamkeit
       verdrängt, sondern auch die Kapazitäten der Abgeordneten in Beschlag
       genommen. Die Einigung auf den genauen Untersuchungsauftrag – acht Seiten
       lang, in 38 Punkte gegliedert – verzögerte sich.
       
       ## Viele Fragen, enger Zeitraum
       
       Neben dem Umgang mit den Ortskräften soll der Ausschuss unter anderem
       klären: Warum war die Bundesregierung vom Kollaps des afghanischen Staats
       so überrascht? Warum hielt sie fast bis zuletzt an Abschiebungen nach
       Afghanistan fest? Und welche Konsequenzen müssen für Bundeswehreinsätze in
       anderen Krisenregionen folgen?
       
       Konzentrieren soll sich der Ausschuss auf den Zeitraum zwischen dem 29.
       Februar 2020 (als Donald Trump den Taliban in einem Abkommen auf eigene
       Faust den Abzug der US-Truppen zusagte) und dem 30. September 2021 (als das
       Mandat der deutschen Evakuierungsmission offiziell auslief). Nicht
       abgedeckt sind somit Auseinandersetzungen nicht anerkannter Ortskräfte mit
       deutschen Behörden, die sich bis heute hinziehen – so wie etwa im Fall der
       Verwandten von Sabur M.
       
       Nach Ansicht von Ampel-Abgeordneten war die Einschränkung nötig, um den
       Rahmen eines U-Ausschusses nicht zu sprengen. Laut Ralf Stegner (SPD), der
       das Gremium leiten soll, wird die aktuelle Dimension des Themas trotzdem
       nicht untergehen. „Wir haben es nicht mit einem abgeschlossenen Vorgang zu
       tun. Es gibt Betroffene, die noch heute in großer Bedrängnis sind“, sagt
       er. „Ich bin mir sicher, dass wir der Frage sachgerecht nachgehen und dass
       uns die Akten und Zeugenbefragungen auch über den Untersuchungszeitraum
       hinaus Erkenntnisse liefern werden.“
       
       In den Augen der Linkspartei ist dagegen nicht nur der Zeitraum, sondern
       auch der Untersuchungsauftrag zu eng gefasst. „Es ist der verbrecherische,
       20 Jahre lange Krieg der Nato in Afghanistan, der nach einer
       parlamentarischen Untersuchung verlangt“, sagt die Abgeordnete Sevim
       Dağdelen. „Die enormen Kosten des Krieges mit laut Uppsala Conflict Data
       Program über 200.000 getöteten Afghanen und Millionen Flüchtlingen dürfen
       nicht unter den Tisch gekehrt werden, die unzähligen Drohnenmorde und
       anderen Kriegsverbrechen gerade auch engster Verbündeter rufen geradezu
       nach Aufklärung.“ Das sei der Bundestag den Menschen in Afghanistan, den
       Opfern des Krieges und den zu Tode gekommenen Bundeswehrsoldaten schuldig.
       
       ## Zweites Gremium in Vorbereitung
       
       Komplett ignorieren wollen Koalition und Union die 20 Jahre vor dem Abzug
       allerdings auch nicht: Neben dem Untersuchungsausschuss soll der Bundestag
       am 7. Juli auch noch eine Enquete-Kommission beschließen. Abgeordnete und
       externe Expert*innen sollen in dem Gremium den gesamten
       Bundeswehreinsatz reflektieren und Lehren für künftige Konflikte
       formulieren. Unter Leitung des ehemaligen Berliner Bürgermeisters Michael
       Müller (SPD) soll dieses Gremium die Arbeit ebenfalls nach der Sommerpause
       aufnehmen.
       
       Zu klären ist bis zu den Einsetzungsbeschlüssen aber noch, wie sich die
       Gremien genau zusammensetzen werden. Die Linksfraktion, seit der
       Bundestagswahl geschrumpft, diskutiert zum Beispiel noch, welche
       Abgeordneten sie in den arbeitsintensiven Untersuchungsausschuss schicken
       wird. Andere Fraktionen haben zum Teil noch nicht geklärt, welche externen
       Expert*innen sie für die Enquete-Kommission nominieren.
       
       Klarheit gibt es zumindest schon bei der SPD, die ein breites Spektrum in
       das Gremium holen will: Mit Hans-Joachim Giessmann und Ursula Schröder hat
       sie zwei Wissenschaftler*innen aus der Friedens- und Konfliktforschung
       eingeladen; mit André Wüstner kommt der Vorsitzende des Bundeswehrverbands
       hinzu. Ihre Arbeit in der Enquete-Kommission könnte sich bis ins Jahr 2025
       hinziehen. Spätestens zum Ende der Legislaturperiode muss dann der
       Abschlussbericht vorliegen. Der Untersuchungsausschuss muss auch vor der
       nächsten Wahl fertig werden, wird den Zeitraum erfahrungsgemäß aber nicht
       ganz ausreizen.
       
       23 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Verzweifelte-Ortskraefte-in-Afghanistan/!5815312
   DIR [2] /Untersuchungsausschuss-zu-Afghanistan/!5794152
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tobias Schulze
       
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