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       # taz.de -- Medikamentenmangel in Russland: Im Notfallmodus
       
       > Medikamente und medizinische Geräte fallen nicht unter die westlichen
       > Sanktionen. Trotzdem fehlt es in Russland an lebensnotwendigen
       > Präparaten.
       
   IMG Bild: Inzwischen Alltag: Menschen in einer Apotheke in St. Petersburg warten vergeblich auf ihre Medizin
       
       Moskau taz | Manchmal verbringt Lida Moniawa ganze Tage in den Apotheken
       quer durch Moskau. Besorgt hier zwei Packungen Fiebersaft, dort Medikamente
       gegen Epilepsie. Sie ist zu einer Suchenden geworden, in den Apotheken, bei
       Lieferant*innen medizinischer Geräte, bei Spender*innen. Nicht selten
       wird sie abgewiesen, „nichts mehr da“, heißt es dann. Oder: „Es ist erst in
       einigen Monaten damit zu rechnen, wann genau, ist unklar. Bezahlen muss man
       aber schon im Voraus.“ Lida Moniawa ist keine, die schnell aufgibt. Die
       34-Jährige kämpft – für schwerstkranke Kinder und ihre Familien im Moskauer
       Kinderhospiz „Das Haus mit dem Leuchtturm“. Seit Februar ist dieser Kampf
       noch mühsamer geworden.
       
       Das Hospiz, 2013 als Stiftung gegründet, bietet medizinische,
       psychologische, pädagogische und rechtliche Hilfe für rund 800 Familien mit
       schwerkranken Kindern an. Im Tageszentrum können die Kinder spielen und
       lernen, sie können Geburtstage feiern oder schwimmen. „Ein Leben führen, in
       dem jeder Tag zählt“, heißt es bei der Stiftung. In einem Land, in dem
       Familien mit Schwerkranken oft sich selbst überlassen sind und die
       Gesellschaft sich noch vor einigen Jahren vielfach dafür aussprach,
       Menschen mit Einschränkungen wegzusperren, ist das viel wert. „Seit Februar
       arbeiten wir im Notfallmodus“, sagt Alexandra Dschordschewitsch vom „Haus
       mit dem Leuchtturm“.
       
       Kaum hatte der russische Präsident Wladimir Putin den Marschbefehl zum
       Überfall der Ukraine gegeben, was in Russland offiziell „[1][militärische
       Spezialoperation]“ genannt werden muss, leerten sich die Apotheken im Land.
       Selbst die einfachsten Mittel waren oft nicht mehr zu bekommen. Die Lage
       hat sich zwar mittlerweile entspannt, für chronisch und schwerkranke
       Menschen ist sie aber oft weiterhin prekär. Epilepsie-Medikamente sind
       schwer zu bekommen, auch Antidepressiva und selbst Asthmasprays.
       Schilddrüsenpräparate sind oft schnell ausverkauft, Krebsmedikamente sind
       sehr teuer und nicht immer übernimmt der Staat die Kosten. Auch
       Verbrauchsmaterialien, medizinische Ernährung oder Ersatzteile für
       medizinische Geräte sind kaum mehr zu bezahlen oder werden gar nicht erst
       geliefert.
       
       Medikamente und medizinische Geräte fallen nicht unter die Sanktionen, die
       die Europäische Union und die USA gegen Russland verhängt haben. Die
       Logistik aber ist gestört, Lieferwege sind komplizierter geworden und die
       Firmen stellen Wachdienste an, um ihre Transporte vor Überfällen zu
       schützen. Das alles führt zur enormen Verteuerung der Präparate.
       Durchschnittlich 15 Prozent mehr kosten nun die Sachen, manches gar doppelt
       so viel wie vorher.
       
       Post funktioniert nicht einwandfrei 
       
       „Eine Packung Medikamente reicht mir für 21 Tage, ich bin mein Leben lang
       auf die Mittel angewiesen, auf den Staat zu warten dauert oft zu lang“,
       sagt Julia, die unter der Stoffwechselerkrankung Mukoviszidose leidet, in
       einer Youtube-Sendung [2][des früheren Chefredakteurs] des unabhängigen
       russischen Online-TV-Senders Doschd.
       
       Wegen der harschen russischen Mediengesetze hatte Doschd seine Arbeit im
       März in Russland eingestellt, seine Mitarbeiter*innen senden nun aus
       dem Exil – über Youtube, die Plattform ist in Russland noch nicht verboten.
       Julias Lösung, noch vor dem Krieg: Sie beschaffte sich auf Umwegen und auf
       eigene Kosten das Präparat im Ausland und ließ es sich per Post nach Moskau
       schicken. Nun aber kann die Moskauerin mit ihrem russischen Konto keine
       Rechnungen mehr im Ausland bezahlen. Auch die Post funktioniert nicht
       einwandfrei. Julia setzt auf ihre Freunde im Ausland und auf Transport über
       Drittstaaten, die Russland nicht „unfreundlich“ nennt. „Es gibt keinen
       anderen Ausweg“, sagt die junge Frau.
       
       Ob Zahnärzte, Chirurg*innen oder Nephrolog*innen, die meisten
       Mediziner*innen im Land arbeiten mit medizinischen Geräten aus dem
       Ausland. Diese aber können kaum mehr gewartet werden. Die heimische
       Produktion von künstlichen Hüftgelenken liegt bei etwa zehn Prozent. Auch
       Zahnimplantate stellt Russland kaum her. Alle müssen sich nun
       umorientieren.
       
       Das „Haus mit dem Leuchtturm“ verteilt an seine Familien nur noch je einen
       Rollstuhl, früher waren es noch zwei, einer für drinnen, einer für draußen.
       Neue Geräte werden nicht angeschafft, das ist zu teuer. Die Lieferzeit für
       Liegestühle zum Baden bettlägeriger Kinder liege bei mindestens einem
       halben Jahr, so der Hauptlieferant der Organisation. Bei Antidepressiva
       müssten sie nun auf toxischere Mittel als Ersatz umsteigen, fiebersenkende
       Mittel kauften die Mitarbeiter*innen, sobald sie diese in den Apotheken
       sähen, so Alexandra Dschordschewitsch.
       
       Sie haben zum Teil ihre Büros aufgegeben, verzichten auf Drucker und setzen
       mehr auf ehrenamtliche als festangestellte Nannys. Zudem fallen Spenden aus
       dem Ausland weg, weil das [3][Swift-Zahlungssystem] abgestellt wurde,
       Fundraising über Facebook und Instagram funktioniert nicht, weil Russlands
       Justiz die Netzwerke als „extremistisch“ eingestuft hat.
       
       Menschen spenden weniger 
       
       Die Menschen in Russland haben nun weniger Geld und spenden auch weniger,
       dabei finanzieren sich viele solcher Einrichtungen rein über Spenden. Auch
       das faktische Verbot unabhängiger Medien erschwert die Arbeit von
       Hilfsorganisationen. Oft nutzten sie diese als Mittel, um im Beamtenapparat
       gehört zu werden, und letztlich auch als Hebel für gesellschaftlichen
       Wandel im Land. Der Weggang ausländischer Unternehmen schlägt sich
       ebenfalls in der Arbeit der sozialen NGOs nieder. Ikea zum Beispiel hatte
       für das Kinderhospiz Räume für begleitetes Wohnen eingerichtet.
       
       Die russische Regierung gibt sich gewohnt selbstsicher und ruft laut: „Wir
       können alles selbst.“ So setzt Moskau auf Importsubstitution wie auch auf
       Parallelimporte, ohne die Rechte der Hersteller zu achten. Der Staat schaut
       sich zudem auf anderen Märkten um, in Korea, China und Indien. Doch der
       Umbau kostet Zeit. Zeit, die manche Patient*innen im Land nicht haben.
       
       9 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Patriotismus-an-russischen-Schulen/!5841741
   DIR [2] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/interview-tichon-dsjadko-101.html
   DIR [3] /Moeglicher-Swift-Rauswurf-Russlands/!5835107
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Inna Hartwich
       
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