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       # taz.de -- Abschied von der Entschuldigung: Ein Leben ohne Demutsgeste
       
       > Ist es richtig, das Entschuldigen aufzugeben, weil andere es als Zeichen
       > der Schwäche deuten? Der Ethikrat ist durch einen Zahn-Fund abgelenkt.
       
   IMG Bild: Eine Torte ist gut, eine Torte mit Zahn ist besser – zumindest, wenn man dem Ethikrat folgt
       
       Kürzlich entschuldigte sich eine Bekannte auf einer Konferenz, weil sie
       länger als eine Minute brauchte, um einen komplizierten Antrag
       umzuformulieren. Sie entschuldigte sich mehrmals, und ich dachte, dass nur
       Frauen sich prophylaktisch entschuldigen, es ist wie eine vorauseilende
       Demutsgeste, um Schläge zu vermeiden. Ich erwog, mich selbst in einem
       Selbstversuch [1][eine Woche lang nicht zu entschuldigen], aber ich war
       unsicher, ob der Kollateralschaden der dann unterlassenen, aber eigentlich
       angemessenen Entschuldigungen zu hoch wäre, und außerdem kamen mir andere
       Dinge dazwischen.
       
       Ich entschuldigte mich in der Folge bei der Nachbarin, die Corona bekam,
       sieben Tage, nachdem ich sie besucht hatte – mit negativem Coronatest, der
       zwei Tage später ins Positive umschlug. Ich entschuldigte mich für
       unberechtigtes Anpöbeln bei meiner Tochter, die mich fragte, wozu meine
       Entschuldigung gut sei, wenn ich doch wieder pöbeln würde. Ich
       entschuldigte mich zähneknirschend bei einem Freund, der meinen barschen
       Ton moniert hatte, und fragte mich, warum ich die Deutungshoheit über die
       Notwendigkeit einer Entschuldigung anderen überließ.
       
       Dann ging ich ins Café, wo ich niemanden kenne und mich selten
       entschuldigen muss. Aber als ich an der Garderobe meinen Mantel aufhing,
       stolperte jemand über meine Tasche und schüttete einen Becher heißen Kakao
       über mich.
       
       [2][„Verzeihung“,] sagte ich zornig. „Das macht doch nichts“, sagte der
       Kakaoträger, und ich erkannte den Vorsitzenden des Ethikrats. Der Ethikrat,
       das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir [3][gelegentlich
       Hinweise in Fragen praktischer Ethik] geben.
       
       Der Vorsitzende reichte mir ein Stofftaschentuch, das mit grüner Spitze
       eingefasst war. „Danke“, sagte ich, „wo sind Ihre Kollegen?“ „Sie nehmen an
       einem Seminar zum Schweigen des Philosophen teil“, sagte der Vorsitzende.
       Da die Kollegen des Vorsitzenden in der Regel ohnehin schwiegen, schien mir
       ihre Teilnahme am Seminar müßig, aber warum etwas Gehässiges formulieren,
       wofür man sich erneut entschuldigen muss. „Könnte ich Sie in einer
       praktischen Frage konsultieren?“, fragte ich stattdessen. „Natürlich“,
       sagte der Vorsitzende und wies einladend auf eine Bank. Ein Kellner
       erschien, der die Frage des Vorsitzenden nach veganer Torte mürrisch
       aufnahm.
       
       „Mich treibt der Umgang mit Entschuldigungen um“, sagte ich. „Mir scheint,
       dass sich in der Regel die Falschen entschuldigen: defensive Menschen,
       meist Frauen, für Lappalien oder weil sie ihren eigenen, viel zu hohen
       moralischen und sozialen Ansprüchen nicht immer genügen. Während
       diejenigen, die Anlass für eine Entschuldigung hätten, es so gut wie nie
       tun.“ Der mürrische Kellner brachte die Torte, die einen ältlichen Eindruck
       machte.
       
       „Sich zu entschuldigen gilt als Zeichen von Schwäche“, fuhr ich fort, „und
       ich frage mich, ob man sich dem beugt und es lässt.“ Der Ratsvorsitzende
       zerteilte sein Tortenstück und stieß dabei mit der Gabel auf etwas Festes,
       das sich als Zahn erwies. „Oder wäre es souveräner, für die begründete
       Entschuldigung als soziale Norm zu kämpfen?“, fragte ich. Der Vorsitzende
       wickelte den Zahn in eine Serviette und näherte sich dem Kellner, der an
       der Kuchenvitrine hantierte.
       
       „Junger Mann“, sagte er und legte den Zahn auf die Vitrine. „Ist das nicht
       erstaunlich?“ Der Kellner schien desinteressiert. „Das sind die Bios“,
       nuschelte er, „die rühren alles rein, Hühnerfüße, Hühnerzähne, Hundezähne.“
       „Sicher wissen Sie, dass der Zahn Symbol der Kraft ist“, sagte der
       Ratsvorsitzende befriedigt, als handle es sich um eine persönliche
       Auszeichnung. „Das rechtfertigt nicht alles“, sagte der Kellner und
       verschwand in der Küche.
       
       27 Jun 2022
       
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