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       # taz.de -- Kerstin Claus über Schutz vor Missbrauch: „Wie beim Brandschutz“
       
       > Kerstin Claus ist unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen
       > Kindesmissbrauchs. Sie ist für Aufweichung des Datenschutzes bei
       > Verdachtsfällen.
       
   IMG Bild: Kerstin Claus ist seit kurzem neue Missbrauchsbeauftragte
       
       taz am wochenende: Frau Claus, Sie hatten gerade erst Ihr Amt angetreten,
       da wurde der Missbrauchsfall in [1][Wermelskirchen] aufgedeckt. Kurz darauf
       belegte eine Studie, dass im Bistum Münster die Zahl der Missbrauchsopfer
       viel größer ist als bislang angenommen. Kein sanfter Einstieg. 
       
       Kerstin Claus: Das hatte ich auch gar nicht erwartet, ich arbeite in dem
       Themenfeld ja schon sehr lange.
       
       Seit der systematische Missbrauch in der katholischen Kirche 2010
       öffentlich geworden war, steigt die Zahl der entdeckten Fälle in den
       Kirchen, im Sport, in Heimen, in Familien. Liegt das an besseren
       Ermittlungsmethoden oder an einer größeren Sensibilität der Gesellschaft? 
       
       Schwer zu sagen, das Dunkelfeld ist nach wie vor wenig erforscht. Solange
       wir nur die angezeigten Taten kennen, kann man nicht sagen, wie viele
       Missbrauchsfälle es tatsächlich gibt.
       
       Aber es scheint so, als ob nun öfter Missbrauchsfälle aufgedeckt werden. 
       
       Dieser Eindruck entsteht aus einer Mischung verschiedener Gründe: Zum einen
       gibt es inzwischen konsequentere Ermittlungen durch Bundeskriminalamt und
       Landeskriminalämter. Zum anderen tauchen jetzt öfter durch das Internet
       Beweise auf, die belegen, was passiert. Dadurch wird deutlich, dass es
       Täternetzwerke und eine organisierte Kriminalität in diesem Bereich
       tatsächlich gibt. Selbst viele Expert:innen hätten bis vor wenigen
       Jahren verneint, dass es in Deutschland Banden gibt, die sich Kinder
       zuschieben. Betroffenen, die davon berichtet haben, wurde nicht geglaubt.
       
       Glaubt man Opfern heute eher? 
       
       Denen, die keine Beweise haben, glaubt man immer noch nicht leichter.
       
       Wie sehen die konsequenteren Ermittlungen aus? 
       
       Es gibt mehr Ermittler:innen, Täternetzwerke werden genau unter die Lupe
       genommen, Daten penibel ausgewertet. Dadurch, dass Täter wie jener in
       Wermelskirchen ihre Taten minutiös aufgezeichnet haben, kann man diese
       Daten mit bereits bekannten Daten abgleichen und kommt weiteren Tätern auf
       die Spur.
       
       Sprechen wir ausreichend über Gewalt an Kindern? 
       
       Wir sind bei diesem Thema immer noch recht hilflos. Mittlerweile
       unterschreiben zwar die meisten Menschen, dass es sexuelle und andere
       Gewalt gegen Kinder auch in Familien, im sozialen Umfeld gibt. Aber fragt
       man konkret, wie es in der eigenen Familie aussieht, sagen die
       allermeisten: Nein, bei uns passiert so etwas nicht.
       
       Viele leben in der Annahme, Missbrauch passiert nur den anderen? 
       
       Das zeugt von einer Distanz der Gesellschaft diesem Thema gegenüber. Wenn
       Sie das Interview mit einer Frage nach meinem wenig sanften Einstieg ins
       Amt starten, drückt das ja auch Distanz aus. Für mich ist das ein „normales
       Thema“. Zu dieser Sichtweise sollte auch unsere Gesellschaft kommen.
       
       Reichen all die Präventionsprogramme, die in den vergangenen Jahren
       erarbeitet wurden, nicht aus? 
       
       Alles, was gemacht wird, ist gut, richtig und wichtig. Aber oft liegt die
       Kompetenz dafür bei einer einzigen Lehrerin, einem bestimmten Trainer,
       einer Kita-Mitarbeiterin. Es darf aber nicht vom Zufall abhängen, ob und wo
       es diese Fachkräfte gibt und wie qualifiziert sie sind. Es ist auch nicht
       garantiert, dass ein Kind sich ausgerechnet dieser einen Person anvertraut,
       die dafür zuständig ist.
       
       Also mehr Personal und noch mehr Sensibilisierungsmaßnahmen? 
       
       Ich möchte dafür sorgen, dass sich jede und jeder beim Kinderschutz
       angesprochen fühlt. Alle Lehrkräfte in einer Schule müssen wissen, was zu
       tun ist, wenn sich ein Kind mit einem Gewaltproblem an sie wendet. Es muss
       so ähnlich laufen wie beim Brandschutz, dort gibt es genaue Vorgaben, was
       zu tun ist, wenn es brennt.
       
       Eine Mammutaufgabe, richtig? 
       
       Das Thema Gewalt gegen Kinder muss in allen medizinischen, pädagogischen,
       psychologischen Ausbildungen fest verankert sein. Die Menschen, die heute
       in den Arbeitsmarkt einsteigen, brauchen eine Grundkompetenz beim
       Kinderschutz. Und Kinder, die vom Missbrauch erzählen, brauchen Strukturen,
       die sie auffangen: Intervention und Hilfe muss gut vorbereitet sein.
       Notfalls muss man sich entscheiden, ein Kind zunächst einmal wieder nach
       Hause zu schicken.
       
       Auch wenn klar ist, dass dort weitere Gewalt droht? 
       
       Auch dann, denn gute Hilfeplanung braucht Zeit und Kinder müssen in den
       Entscheidungen mitgenommen werden. Täter sind oft vertraute Bezugspersonen,
       mit denen sie unter einem Dach leben. In Extremsituationen ist es etwas
       anderes, da muss das Kind sofort aus der Familie genommen werden.
       
       Welche Verantwortung für Prävention tragen Eltern? 
       
       Eltern müssen lernen, selbstbewusster nach Schutzkonzepten zu fragen und im
       Zweifelsfall das Kind nicht in dem Sportverein trainieren zu lassen, der
       kein [2][Schutzkonzept] hat.
       
       Missbrauch findet nicht nur in der realen Welt statt, sondern auch im Netz.
       Beim Täter in Wermelskirchen wurden 30 Terabyte kinderpornografisches
       Datenmaterial gefunden, beim Missbrauchskomplex in Münster waren es 500
       Terabyte. Ist Missbrauch im Netz noch kontrollierbar? 
       
       Das eine hängt mit dem anderen direkt zusammen, die Bilder und Videos im
       Netz sind ja in der realen Welt entstanden. Hinter Missbrauch im Netz
       stecken drei Straftaten auf einmal: die Produktion der Aufnahmen, ihre
       Dokumentation und das Verbreiten.
       
       Ermittler:innen beklagen, diese riesigen Datenmengen nicht mehr
       auswerten zu können.
       
       Es geht nicht ohne Künstliche Intelligenz. Bekanntes Bildmaterial muss
       getrennt werden von neuem, die Daten müssen in einer europaweiten Datenbank
       erfasst werden, damit alle Ermittlungsbehörden sie nutzen können. Neues
       Material rasch auszuwerten, ist wichtig, um die Kinder, die dafür
       missbraucht wurden, zügig zu identifizieren, um ihnen zu helfen.
       
       Ermittler:innen klagen auch, dass sie aus Datenschutzgründen an Täter
       im Netz kaum herankommen. 
       
       Bei Verdachtsfällen in der realen Welt ist es kein Problem, in eine Wohnung
       einzudringen und den Täter bei der Tat zu stellen …
       
       … so wie das kürzlich in Wermelskirchen passiert ist. 
       
       Im Netz ist es komplizierter, da steht der Schutz der Privatsphäre über
       allem. Ich weigere mich aber, Datenschutz in dieser Schärfe zu akzeptieren.
       
       Den Datenschutz also aufweichen zugunsten des Kinderschutzes und private
       Whatsapp-Chats und Facebook anzapfen? 
       
       Auch in der digitalen Welt gibt es eine Privatsphäre, anlasslos darf nicht
       durchsucht werden. Aber warum soll es nicht möglich sein, bei
       Verdachtsmomenten zu sagen: In diesen Chat gehen wir jetzt rein?
       
       Provider melden schon jetzt freiwillig Verdachtsmomente. 
       
       Diese Vereinbarung auf [3][EU-Ebene] läuft aber 2024 aus. Die EU-Kommission
       fürchtet, dass Provider dann nichts mehr melden, weil es dafür keine
       Rechtsgrundlage gibt.
       
       Muss ein Gesetz her? 
       
       Die EU-Kommission hat dafür ein gestuftes Verfahren vorgelegt. So sollen
       bei Verdachtsmomenten Chats durchsucht werden können, die Unternehmen
       sollen selber eine Risikoanalyse vornehmen. Anhand dieser Analyse soll dann
       beschlossen werden, welche Maßnahmen durchzuführen sind, in Deutschland
       würden wohl Richter:innen den Beschluss fällen. Es muss genau definiert
       sein, wo der Kinderschutz beginnt und der Datenschutz endet. Hier bin ich
       mit dem Datenschutzbeauftragten im Gespräch.
       
       Kinderschutz ist bei Alkohol und Zigaretten klar definiert, man bekommt
       beides nur mit einem Personalausweis. Bei Internetspielen kann sich jeder
       Erwachsene einschleusen, sich als minderjährig ausgeben und so Kontakt zu
       Kindern bekommen. 
       
       Wer sagt denn, dass Kinder nicht auch einen Ausweis bekommen können, mit
       dem sie sich im Netz identifizieren? Kinder könnten auch mit einer
       speziellen E-Mail-Adresse Zugang zu Spielen im Netz bekommen.
       
       Wie realistisch ist es, Kinder mit einer Netzidentität auszustatten? 
       
       Ich möchte nicht immer nur hören, was nicht geht. Ich möchte erreichen,
       dass etwas geht. In der realen Welt schützen wir Kinder mit Fahrradhelmen
       und anderen Dingen. Sicherheitsmaßnahmen müssen auch im digitalen Raum
       möglich sein.
       
       Viele Opfer, die längst erwachsen sind, fühlen sich verraten, weil der
       Missbrauch immer noch nur schleppend aufgearbeitet wird. Sie plädieren für
       ein Recht auf Aufarbeitung. Wie soll das gehen? 
       
       Es braucht ein Recht auf Sichtbarkeit für jene Betroffenen, deren Fälle
       juristisch verjährt sind, ob im familiären oder im kirchlichen Bereich, in
       den Heimen oder im Sport. Im Koalitionsvertrag ist vereinbart, zu meinem
       Amt eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, das sogenannte UBSKM-Gesetz. Da
       passt das Recht auf Aufarbeitung sehr gut hinein.
       
       [4][Ein Opfer verklagt jetzt Benedikt XVI.] Womöglich wird sich der frühere
       Papst vor einem weltlichen Gericht verantworten müssen. Wie hilfreich ist
       das? 
       
       Hier scheint es sich um eine sogenannte Feststellungsklage zu handeln.
       Sollte die zum Erfolg führen, muss sich zwar niemand strafrechtlich
       verantworten, aber die Schuld der Kirche würde klar festgestellt. Dass
       Betroffene solche Wege gehen, zeigt, wie wichtig Aufarbeitung für sie ist.
       
       24 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Missbrauch-in-Wermelskirchen/!5856364
   DIR [2] https://www.kein-raum-fuer-missbrauch.de/schutzkonzepte/sport-und-freizeit
   DIR [3] https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20210701IPR07503/neue-vorschriften-gegen-missbrauch-von-kindern-im-internet-verabschiedet
   DIR [4] /Klage-gegen-Ex-Papst-und-Kirchenobere/!5860702
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Schmollack
       
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