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       # taz.de -- Neue Deutsche Führungsrolle: Der schüchterne Leader
       
       > Von Deutschland wird erwartet, dass es eine Führungsrolle übernimmt.
       > Bisher galt: Frankreich liefert die Ideen, Deutschland die Bedenken.
       
   IMG Bild: Da muss einfach mehr gehen – Olaf Scholz hat es zumindest vor
       
       Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil sagte in dieser Woche einen Satz, der
       Linken kalte Schauer über den Rücken jagte: Deutschland müsse den Anspruch
       haben Führungsmacht zu sein, so Klingbeil in einer Grundsatzrede auf einer
       Konferenz zur Zeitenwende der parteinahen [1][Friedrich-Ebert-Stiftung].
       Die Reaktionen folgten prompt. Sie halte dies für ein völlig falsches
       Verständnis der deutschen Rolle, konterte Juso-Vorsitzende [2][Jessica
       Rosenthal] gegenüber dem Spiegel. Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch
       kritisierte, statt Deutschland in den Mittelpunkt zu rücken, solle die SPD
       mal lieber die Bürger in den Mittelpunkt stellen.
       
       Der SPD-Außenpolitiker Nils Schmid kann über die Aufregung nur lächeln:
       „Wir können uns gar nicht aussuchen, ob wir Führungsmacht sind oder nicht“,
       so Schmid zur taz. „Wir sind es längst.“ Den meisten Deutschen sei gar
       nicht bewusst, wie viele Länder Deutschland in dieser Rolle sähen.
       Entsprechend hoch seien die Erwartungen, entsprechend scharf die Kritik,
       wenn Deutschland in den Augen der Welt zu zögerlich agiere.
       
       Ähnlich sieht es die Politikwisschenschaftlerin Daniela Schwarzer von der
       [3][Open Society Foundations]. „Deutschland ist ein globaler Player“, sagte
       sie der taz. Demzufolge käme ihm auch eine besondere politische Rolle zu.
       Zum einen sei es Deutschlands Aufgabe, die Verbindung zu einem anderen
       Global Player, nämlich den USA, zu intensivieren. „Von Seiten der USA gibt
       es da klare Erwartungen an Deutschland.“ Und zum anderen als wirtschafltich
       stärkstes Land in der EU für Konsens zu sorgen. „Denn wir müssen die EU im
       Inneren stärken, um nach außen handlungsfähiger zu werden.“
       
       ## Debatte um Deutschlands Rolle ist nicht neu
       
       Die Debatte über Deutschlands außenpolitisches Selbstverständnis ist keine
       neue und entflammt immer mal wieder. Vor allem in Krisenzeiten. Ob man
       Deutschland, wie es 2015 der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier
       tat, positiv als „aktive Gestaltungsmacht“ labelt oder ihm etwas
       unverhohlener wie der Polititologe Herfried Münkler auch eine Rolle als
       „Zuchtmeister Europas“ zuweist – immer geht es darum, dass die viertgrößte
       Volkswirtschaft der Welt seinem ökonomischen Gewicht gemäß auch politische
       Verantwortung übernehmen soll.
       
       Und zwar nicht, und das missverstehen viele Linke oft, indem die Deutschen
       auf den Tisch hauen und anderen ihren Willen aufzwingen, wie seinerzeit dem
       hochverschuldeten Griechenland. Sondern, indem man unterschiedliche
       Interessen zusammenführt. Kein Diktator, ein Moderator also. Oder wie es
       SPD-Verteidigungsministerin Christine Lambrecht auf ebenjener Konferenz
       formulierte: „Den Anstoß geben zu mehr Miteinander, das ist für mich
       Führung.“
       
       Am Wochenende hat Deutschland nun Gelegenheit vor den Augen der
       Weltöffentlichkeit in der Rolle der inklusiven Gastgeberin zu glänzen:
       Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Staatschefs der G7 sowie die beiden
       höchsten EU-Repräsentanten, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und
       Ratspräsident Charles Michel, nach Schloss Elmau eingeladen. Hier geht es
       um die großen Themen der Zeit: Um Klima, Ernährung, Demokratie.
       
       ## Scholz versucht den Befreiungsschlag
       
       Überlagert ist die Agenda allerdings vom Krieg in der Ukraine. Denn mit
       seinem Angriff auf das Nachbarland hat die Großmacht Russland die
       bisherigen Säulen der Weltordnung weggehauen. Völkerrecht? Ist Putin egal.
       Die Suche nach der neuen Weltordnung hat seitdem begonnen. In Elmau und
       auch beim darauffolgenden Nato-Gipfel in Madrid sollen neue Allianzen
       geschmiedet und alte erneuert werden. Und Deutschland kann sich dabei nicht
       – wie es Scholz so gern formuliert – im Geleitzug bewegen, sondern muss als
       G7-Präsidentin vorangehen.
       
       Die künftige Ordnung werde eine Konfliktordnung sein, prognostiziert die
       Politikwissenschaftlerin Claudia Major, die die Forschungsgruppe
       Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik leitet. „Das
       erfordert einen Mentalitätswechsel: Raus aus der geoökonomischen
       Kuschelecke rein in die geostrategische Umgebung.“ Im Klartext: Neben dem
       BIP entscheidet die Größe der Waffenarsenale künftig stärker darüber, wer
       weltweit mitreden kann. Hier haben Deutschland und die EU den größten
       Nachholbedarf. Von einer, wie es im Militärsprech heißt, „strategischen
       Autonomie“ sei die EU weit entfernt, so Lambrecht. Oder plastischer: „Weder
       in Moskau, noch in Teheran oder Peking schaut man auf die EU und verändert
       deshalb seine Streitkräfteplanung“, ist die Verteidigungsministerin
       überzeugt.
       
       Bundeskanzler Scholz versuchte bereits den nationalen Befreiungsschlag. Mit
       der Entscheidung, in den nächsten Jahren 100 Milliarden Euro in die
       Bundeswehr zu pumpen, wird Deutschland die größte konventionelle Armee
       Europas stellen. Sollte es gelingen, mit diesem Geld die deutsche
       Verteidigungsfähigkeit neu aufzustellen, „schaffen wir es auch in Europa“,
       ist Major optimistisch. Die deutsche Zeitenwende sei die Voraussetzung für
       die europäische Zeitenwende.
       
       ## Keiner trägt die Sanktionen gegen Russland
       
       Eine Neuauflage der militärischen Blockbildung wie zu Zeiten des Kalten
       Krieges will man im Kanzleramt jedoch unbedingt vermeiden. Der Westen
       versus Russland, China und die Schwellenländer, das sei nicht im deutschen
       Interesse, so Regierungskreise. Entsprechend hat Deutschland auch die
       bevölkerungsreichen Demokratien Afrikas, Asiens und Lateinamerikas nach
       Elmau eingeladen: Indien, Indonesien, Senegal, Südafrika und Argentinien.
       
       Keiner der Gäste trägt die Sanktionen gegen Russland mit. Das ist euer
       Konflikt, so die Haltung im globalen Süden. Hat der Westen die Solidarität,
       die er jetzt einfordert, etwa bewiesen, als russische Kampfjets Aleppo
       bombardierten? Die Auswirkungen des Krieges müssen die Länder des Südens
       dennoch doppelt und dreifach bezahlen in Form von ausbleibenden
       Getreideimporten und rasant steigenden Preisen. Auch Russland buhlt um
       diese Schwellenländer, mit Waffen und billiger Energie. Und mit Propaganda.
       
       Die Erzählung, der Westen mit seinen Sanktionen ist daran schuld, dass ihr
       leiden müsst, verfängt. Dabei gibt es gar keine Sanktionen auf
       Nahrungsmittel. Die Herausforderung der G7 wird es nicht nur sein, die
       heraufziehende und in einigen Ländern jetzt schon reale Hungerkrise zu
       meistern. Sondern den globalen Süden stärker zu beteiligen, und zwar nicht
       erst, wenn man selbst Hilfe braucht. „Entwicklungpolitik“, so die
       zuständige deutsche Ministerin Svenja Schulze, ist vorrausschauende
       Geopolitik.
       
       ## Bereit, Verantwortung zu übernehmen
       
       Das gilt auch für das Thema Klima. Scholz hat einen Klimaclub vorschlagen,
       einen Club, in dem all jene Mitglied werden können, die sich verpflichten,
       bis Mitte des Jahrhunderts klimaneutral zu werden. Auch Klimaaktivisten
       finden das eine gute Idee „Doch wenn das ein reiner G7-Club wird, ist er
       zum Scheitern verurteilt“, so Christoph Bals, Sprecher der Klima-Allianz
       Deutschlands. Die spannende Frage wird also sein, ob es Scholz gelingt,
       weitere Mitglieder zu werben.
       
       Man sei bereit Verantwortung zu übernehmen, hatte Scholz diese Woche im
       Bundestag gesagt. Ob das gelingt, hängt aber auch davon ab, wie mutig
       Deutschland seine Führungsrolle ausfüllt. In der EU galt bisher: Frankreich
       liefert die Ideen, Deutschland die Bedenken. Deutsche Europapolitik sei
       viel zu zurückhaltend und zu wenig risikobereit, meint Schwarzer. Diese
       Haltung müsse Deutschland aufgeben. „Wir sind in einer Zeit, in der wir
       neue Antworten finden müssen. Dazu muss Deutschland beitragen, und das
       erfordert den Mut auch mal eine Vision über das unmittelbar Machbare hinaus
       zu formulieren“, so die Politikwissenschaftlerin.
       
       Klar ist: Gegen Deutschland geht auch derzeit schon wenig. Mit Deutschland
       muss mehr gehen.
       
       24 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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