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       # taz.de -- Die Wahrheit: Kinderstube für Schmarotzer
       
       > Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (148): Bitterlinge sind
       > bei der Fortpflanzung auf Flussmuscheln angewiesen.
       
   IMG Bild: Trauriger Bitterling ohne Flussmuschel
       
       Auf einer Ratgeberseite im Internet heißt es: „Will man Bitterlinge und
       Flussmuscheln erfolgreich im Gartenteich halten und vielleicht sogar
       züchten, brauchen beide in der Flachwasserzone eines mittelgroßen Teiches
       einen sandigen Untergrund, der zum Teil von Pflanzen frei sein sollte.
       Damit man sie gut beobachten kann, wählt man am besten einen hellen Sand.
       Wichtig ist für beide sauberes, klares Wasser, welches aber trotzdem
       genügend planktische Algen enthalten muss, damit die Muscheln ausreichend
       Nahrungspartikel zum Abfiltrieren haben.“
       
       Über die Bitterlinge schrieb Alfred Brehm: „Wenige unserer Flußfische
       kommen ihm an Zierlichkeit der Gestalt und Schönheit der Färbung gleich;
       ja, man sagt schwerlich zu viel, wenn man behauptet, daß dieser etwa fünf
       Zentimeter lange zwerghafte Karpfen den berühmten Goldfisch an Pracht noch
       übertrifft.“
       
       Über die Flussmuschel teilt Wikipedia mit: Sie zählt zu den großen
       Süßwassermuscheln, die vom Aussterben bedroht sind. Das bräunlich-schwarze
       Gehäuse ist bohnen- oder nierenförmig und im Durchschnitt acht bis zehn
       Zentimeter lang. Der Weichkörper ist hell, am Hinterteil befindet sich die
       große Einströmöffnung und eine darüber befindliche glattrandige
       Ausströmöffnung. Ihr Fuß ist relativ kräftig, er dient zur Fortbewegung und
       zum Eingraben.
       
       Die Bitterlinge sind bei der Fortpflanzung auf diese Muscheln angewiesen.
       Die Weibchen legen ihre Eier (bis zu 100) in das Innere ausgewachsener
       Weichtiere, wobei jedes nur ein bis zwei Eier bekommt. Dort werden sie auch
       von den Spermien der Männchen befruchtet. Sie wachsen zunächst in der
       Muschel heran, wo sie vor Fressfeinden weitgehend geschützt sind.
       
       ## Gegendienst der Fische
       
       Die Muscheln bieten dem Bitterlingsnachwuchs einerseits eine „Kinderstube“,
       andererseits „profitieren“ sie von den Fischen, indem sie ihren eigenen
       Nachwuchs zusammen mit den jungen Bitterlingen nach zwei bis vier Wochen
       quasi ausspucken: „Dabei hängen die Muschellarven sich an den Kiemen und
       Flossen der Fische fest und leben dortselbst eine Zeitlang als Schmarotzer.
       So erweisen die Fische gleichsam der Muschel einen Gegendienst“, wie die
       Biologen Karl von Frisch, Richard Goldschmidt und andere im 7. Band ihrer
       „Ergebnisse der Biologie“ schreiben.
       
       Für die Elterntiere ist das eine ideale Kooperation, die dann auch von
       Symbioseforschern oft und gern studiert wurde, zumal eine „ähnliche
       Übertragung der Brutfürsorge auf einen andersartigen Organismus“ den
       Biologen nicht bekannt war. Kommt noch hinzu, dass die kleinen Fische, die
       vier bis fünf Jahre alt werden, die Muscheln bis zu 30, ziemlich
       anspruchslos sind und auch im Aquarium leicht zu halten: „Bitterlinge sind
       Allesfresser, daher ist ihre Ernährung recht einfach. Sie mögen Lebend- und
       Frostfutter sowie pflanzliches und tierisches Fertigfutter aller Art“,
       heißt es auf herz-fuer-tiere.de.
       
       Bei den Flussmuscheln ist die Haltung etwas komplizierter: „Zur Fütterung
       der Muscheln sollte zwei bis drei Mal pro Woche ein wenig Fischfutter zu
       dünnflüssigem Brei aufgelöst werden und mittels eines Schlauchs oder einer
       Spritze vor die Muscheln gegeben werden“, rät interaquaristik.de.
       
       In Freiheit leben die Bitterlinge meist in Buchten mit schlammigem Grund,
       in denen die Große Flussmuschel, die Bachmuschel oder die Gemeine
       Teichmuschel vorkommen. Die Bitterlings-Männchen suchen sich im Frühjahr
       eine passende Muschel aus und vertreiben zunächst die Weibchen von dort.
       Die Nähe der Muschel, nicht die des Weibchens, löst beim Männchen eine
       Umfärbung zum „Hochzeitskleid“ und das Balzverhalten aus. Nähert sich dann
       aber ein geschlechtsreifes Weibchen, beginnt das Männchen, es in einem
       komplizierten Ritual zu seiner Muschel zu locken – bis dieses seine lange
       Legeröhre in den Kiemenraum der Muschel schiebt. Anschließend stößt das
       Männchen seinen Samen über der Muschel ab. Dieser gelangt über das
       Atemwasser der Muschel zu den Eiern, die sich sodann in den Kiemenräumen
       entwickeln. Das Männchen lockt laut Wikipedia „gelegentlich mehrere
       Weibchen zu seiner Muschel. Dieselbe Muschel nutzen mitunter aber auch
       andere Bitterlingspaare, sodass man dann in ihr über 100 verschiedene
       Entwicklungsstadien der jungen Bitterlinge zählen kann“.
       
       ## Fisch des Jahres
       
       Das ist sozusagen der Idealfall bei dieser Symbiose. Auf der Internetseite
       des Nabu heißt es aktuell: „Jahrtausende lang hat die gemeinsame
       Familienplanung der beiden Tierarten gut funktioniert. Doch fehlen die
       Muscheln, wird auch das Liebesleben der Bitterlinge zum Coitus interruptus.
       Und die Muscheln machen sich rar: Faulschlammbildung und Verlandung setzen
       ihnen zu. Auch starke Nährstoffeinträge gehen den Wirten der Bitterlinge
       an die Schalen. Beseitigung von Altarmen und Kleingewässern in den Auen
       sowie der Ausbau von Niederungsbächen tun ein Übriges.“ Diese Devastierung
       der mitteleuropäischen Gewässer hat auch dem Bitterling zugesetzt, der 2008
       zum „Fisch des Jahres“ ernannt wurde.
       
       Stellenweise hat sich die Wasserqualität einiger Flüsse und Seen seitdem
       aber anscheinend doch wieder gebessert und damit auch die Überlebenschance
       von Muscheln und Bitterlingen, die in Brandenburg bereits als Indikator für
       halbwegs sauberes Wasser gelten. Ähnliches scheint bei den bayerischen
       Gewässern passiert zu sein, wobei der Bodensee stellenweise schon wieder so
       sauber ist, dass die Fische kaum noch Nahrung darin finden, wie die Fischer
       klagen, für die Bitterlinge aber sowieso kein attraktiver Fang sind: zu
       klein und zu bitter im Geschmack, daher ihr Name.
       
       Aus Bayern kommt daneben auch noch ein Muschelalarm: Immer häufiger ist in
       den dortigen Gewässern die Chinesische Teichmuschel zu finden, sie zählt zu
       den invasiven Arten und verdrängt nicht nur andere Muschelarten, wie die
       Gemeine Teichmuschel, die Malermuschel oder die Flussmuschel, sondern auch
       Fische – darunter streng geschützte wie den Bitterling. Die bayrischen
       Wissenschaftler kümmern sich aber: „An der TU München soll erforscht
       werden, wie weit sich der Einwanderer aus Fernost bereits ausgebreitet
       hat“, berichtete die Süddeutsche Zeitung.
       
       Die schwäbische Symbioseforschung scheint dagegen schon am Ende zu sein: So
       schreibt zum Beispiel der Betriebswirtschaftler Gerhard-Hermann Koch in
       seiner „Verhaltenskunde für Manager“: „Die Bitterlinge transportieren die
       Muschellarven hinaus in die Welt. Fazit: Start-ups funktionieren ebenso,
       gut behütet wächst das zunächst Hilflose selbst heran!“ Start-upper
       entlocken solche Sätze freilich nur ein bitteres Lächeln.
       
       27 Jun 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Helmut Höge
       
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