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       # taz.de -- Geostrategie im Ukrainekrieg: Europa in der Zwickmühle
       
       > Russland befindet sich im Krieg mit dem Westen. Zeit, über
       > geostrategische Ziele der westlichen Alliierten zu sprechen – wie auch
       > über Waffenlieferungen.
       
   IMG Bild: Seit' an Seit': Die EU-Repräsentant:innen Michel und Von der Leyen mit Joe Biden in Elmau
       
       Die Beurteilung des sich in die Länge ziehenden Ukrainekriegs scheint
       einfach: Der Aggressor Russland greift völkerrechtswidrig nach einem
       unabhängigen Staat, um ihn militärisch in die Knie und zur Vasallenschaft
       zu zwingen. Dem in die EU und in die Nato strebenden Opfer Ukraine gehört
       unsere volle Solidarität. Und unsere Unterstützung nicht nur durch Worte,
       sondern auch durch Waffen ist moralische Pflicht. United we stand with
       Ukraine!
       
       Dass die Sache nicht so einfach ist und dass es selbst geübten Beobachtern
       schwerfällt, sich eindeutig zu positionieren, liegt an den Dilemmata, die
       sich aus dem Krieg für uns Nato-Europäer*innen ergeben.
       
       Die Debatte über die [1][Lieferung schwerer Waffen], die sich als
       Zwickmühle praktischer Politik zeigt, hat dies verdeutlicht. Die
       Befürworter einer vorsichtigen bis zögerlichen Lieferstrategie
       argumentieren damit, dass eine Eskalation des Krieges auf jeden Fall zu
       vermeiden ist, weil er leicht zu einem großen europäischen, wenn nicht gar
       zum nächsten (nuklearen) Weltkrieg ausufern könnte. Das Liefern immer
       schwererer Waffen sei also ein Spiel mit dem atomaren Feuer.
       
       Die Befürworter einer schnellen militärischen Maximalunterstützung hingegen
       argumentieren aus der historischen Lehre der falschen Appeasement-Politik
       gegenüber Hitlerdeutschland heraus mit der Notwendigkeit, den
       imperialistischen Bestrebungen Russlands einen Riegel vorzuschieben: Ein
       auf Ausdehnung ausgerichteter diktatorischer Angreifer verstehe nur die
       realpolitische Sprache der geballten Faust. Das Vertrackte in diesem
       Dilemma ist, dass beide Positionen triftige Gründe nennen und jeweils
       eigene unabschätzbare Gefahrensituationen erzeugen.
       
       ## Bewusste Flunkerei
       
       Die Risiken beider Strategien würden allerdings deutlicher, wenn sie nicht
       durch die bewusste Flunkerei, wir seien ja keine Kriegspartei und deswegen
       relativ sicher, verharmlost würde. Waffenlieferungen an einen angegriffenen
       Staat, der ein Recht auf Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta
       hat, sind zwar in der Tat völkerrechtskonform, aber einen Aggressor, der
       das Völkerrecht bereits brutal gebrochen hat, mit dem Hinweis auf
       ebendieses belehren zu wollen, dass wir rein rechtlich gar nicht
       Kriegspartei seien, ist realitätsfremd. Wir sollten es offen aussprechen:
       Russland befindet sich im Krieg mit dem Westen.
       
       Angesichts unserer möglichen direkten Betroffenheit lässt sich die Sorge
       vor einem „Überschwappen“ des Krieges leicht verstehen. Ein übergeordnetes
       Dilemma bleibt dabei jedoch im Schatten: Wir Europäer*innen haben gute
       Gründe, es einerseits zu keinem scharfen Graben mit der Führungsmacht des
       Westens, den USA, kommen zu lassen. Andererseits haben wir ebenfalls gute
       Gründe, uns nicht vorschnell in eine Koalition der Willigen einzureihen.
       
       Für die Geschlossenheit der westlichen Alliierten spricht: Jede, auch
       innereuropäische, Spaltung wird von der Russischen Föderation als Schwäche
       wahrgenommen und geschickt genutzt. Europa ist daher gut beraten, den
       Schulterschluss mit allen Nato-Alliierten zu üben – gerade mit den USA.
       
       ## US-Produzenten verdienen sich eine goldene Nase
       
       Zugleich aber sind die geostrategischen amerikanischen Interessen in diesem
       Krieg nicht identisch mit den europäischen. Dass Russland zu einem
       Paria-Staat wird, der in absehbarer Zeit keine fossilen Rohstoffe mehr an
       den Westen liefern wird, trifft Europa wirtschaftlich und sozial mit einer
       ganz anderen Wucht als die USA. Diese sind autonom und haben es mit ihren
       Fracking-Methoden geschafft, vor Saudi-Arabien und Russland zum weltgrößten
       Erdölproduzenten aufzusteigen. Amerikanische Erdgasproduzenten verdienen
       sich mit dem Verkauf von Flüssiggas nun eine goldene Nase, zusammen mit der
       US-Rüstungsindustrie. Zugleich ist die wirtschaftliche Verflechtung der USA
       mit Russland bei Weitem nicht so eng wie die zwischen der EU und Russland.
       
       Zudem ist das, offen vom amerikanischen Außenminister erklärte
       geostrategische Ziel der USA, Russland so zu schwächen, dass es keinen
       Krieg dieser Art mehr führen kann, zwar auch aus europäischer Sicht
       nachvollziehbar, aber nicht zwingend im europäischen Interesse. Es erhöht
       das Risiko, dass Russland den Krieg gesamteuropäisch ausweitet. Unser
       Interesse, ihn schnellstmöglich zu beenden, ist aus existenziellen Gründen
       ungleich größer.
       
       Für die USA hingegen käme eine Dauerbeschäftigung des großen Rivalen
       Russlands mit der Ukraine, einer Art von Afghanistanfalle, aus der sie
       jahrelang nicht herauskommen, nicht ungelegen: Man könnte sich stärker auf
       den Hauptrivalen China konzentrieren. Dass dabei die Ukraine Hauptverlierer
       ist und der Krieg dauerhaft in [2][Europa] bleiben könnte, wird wohl als
       möglicher Kollateralschaden in Kauf genommen.
       
       ## Entzug durch schlichtes Ignorieren
       
       Die Unvereinbarkeit zweier dringender Gebote – einerseits dem Aggressor
       Russland gegenüber als loyaler Bündnispartner der USA aufzutreten,
       andererseits aber amerikanische Interessen nicht bedingungslos zum Maßstab
       eigenen Vorgehens zu machen – führt in eine weitere Zwickmühle. Ihr
       entziehen wir uns allerdings gegenwärtig durch schlichtes Ignorieren.
       Europäische Interessen werden weder breit diskutiert, noch kann von einem
       eigenständigen europäischen Handeln auch nur ansatzweise die Rede sein, wie
       der [3][G7-Gipfel] aktuell eindrücklich bestätigt.
       
       Erstes Ziel müsste aus europäischer Sicht ein schnellstmögliches Ende der
       Kampfhandlungen sein. Damit wäre der Konflikt zwar nur eingefroren, aber
       von dort aus ließe sich dann – möglicherweise erst in ferner
       Post-Putin-Zukunft – ein Versuch einer gesamteuropäischen
       Sicherheitskonferenz starten.
       
       Die Chancen darauf sind allerdings eher gering, zu groß ist die nationale
       Zersplitterung und die Machtlosigkeit der EU, auch eine gemeinsame, gut
       ausgerüstete europäische Armee ist unabsehbar. Um unsere europäischen
       Interessen ernster nehmen zu können, müssen wir aber mittel- und
       längerfristig geostrategisch und sicherheitspolitisch auf eigenen Beinen
       stehen.
       
       27 Jun 2022
       
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