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       # taz.de -- Migration und Sprache: Heimat „Kiezdeutsch“
       
       > Wenn Menschen ohne Migrationsbiografie „Kiezdeutsch“ nachäffen, kann das
       > triggern. Als würden sie sich über das Zuhause lustigmachen.
       
   IMG Bild: „We are always listening, searching for sounds that can become home“, schreibt ein Twitter-Nutzer
       
       „Woher kommst du?“ fragen, nachdem ein Name falsch ausgesprochen wird – es
       gibt so Mikroaggressionen im Leben von Menschen mit Migrationsbiografie,
       die alle von uns unterschiedlich bewerten. Während es manche gar nicht
       stört, triggert es andere. Mich stört es sehr, wenn Menschen ohne
       Migrationsbiografie „Kiezdeutsch“ oder „Parkdeutsch“ nachäffen. Wie bei
       Justus, der plötzlich Deutschrap für sich entdeckt hat, oder Julia, die mal
       mit einem Jugo zusammen war. Wenn du mit dieser Art zu sprechen nicht
       aufgewachsen bist, lass es bitte – zumindest in meiner Gegenwart.
       
       Ich habe mich oft in Situationen wiedergefunden, in denen es autochthone
       Menschen lustig fanden, „Parkdeutsch“ zu sprechen, um eine bestimmte
       Situation oder einen Typ Mensch zu imitieren. Als ich beim Fernsehen
       gearbeitet habe, kamen in meinen Beiträgen oft Jugendliche mit
       Migrationsgeschichte zu Wort. Man hörte ihnen an, dass sie Familien haben,
       die ursprünglich aus einem anderen Land kommen. Manchmal imitierten dann
       die Cuter*innen die Sprache der Jugendlichen – „zum Spaß“. Das ärgerte
       mich, aber ich ahnte, dass sie meinen Ärger nicht nachvollziehen können.
       Ich konnte nicht gut in Worte fassen, warum mich das so stört.
       
       Bis ich neulich auf Twitter [1][eine Anekdote eines Mannes las], der davon
       berichtete, wie ein Fremder im Krankenhaus folgenden Satz zu ihm sagte: „I
       hear my country in your voice.“ Ich höre mein Land in deiner Stimme. Das
       war es also. Dabei geht es mir gar nicht um ein konkretes Land. Das ist es
       ja bei vielen Migrant*innen: Viele von uns haben gar kein „eigenes Land“,
       aber wenn ich diese ganz besondere Art Deutsch höre, hört sich das heimisch
       an.
       
       Ich spüre sofort eine Verbindung. Eine Sprache, die von Zerrissenheit und
       Diskriminierung erzählt. Von einem Leben, das einen klein halten will und
       in dem man trotzdem versucht, laut zu bleiben – egal wie oft man von
       Fremden schief angeschaut oder beschimpft wird, wenn man mit seinen
       Freund*innen in diesem Deutsch spricht.
       
       Kiezdeutsch ist für mich alles andere als gebrochenes, falsches Deutsch,
       ein Dialekt oder bloß Jugendslang – für mich ist diese Sprache eine
       Symbiose von postmigrantischen Identitäten, Grammatiken und
       Lebenssituationen. „Für mich ist dieser Slang kein Trend, der in zwei
       Jahren vielleicht wieder peinlich ist, sondern Teil meiner Identität“,
       bringt es eine Schülerin [2][in einem Kommentar für die_chefredaktion] gut
       auf den Punkt.
       
       Als Migrant*innen sind wir viel aufmerksamer für die vielen
       Möglichkeiten von Sprache. Wir achten stärker darauf, ob die Worte, die
       Tonlage, die Pausen uns ein- oder ausschließen, so ähnlich formuliert es
       der junge Mann auf Twitter weiter: „We are always listening, searching for
       sounds that can become home.“ Wenn jemand diese Art zu sprechen also
       nachmacht, fühlt es sich an, als würde sich die Person über mein Zuhause,
       meine Familie, meine Art von Heimat lustig machen.
       
       30 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://twitter.com/sonofolokun/status/1535236238629818368?s=21&t=vxAA4-4VDd_3rh7DRch8yA
   DIR [2] https://www.instagram.com/p/Cd_SuucsMur/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Melisa Erkurt
       
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