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       # taz.de -- Kolumne Ausgehen und rumstehen: Gelaber eines Hochbegabten
       
       > Ein Heinz-Strunk-Roman ist die perfekte Hitzelektüre. Und dank Rocko
       > Schamoni entdeckt man einen Großen des deutschen Humors neu.
       
   IMG Bild: Irgendwo da lauert der Abgrund bei Heinz Strunk: Strandkörbe am Timmendorfer Strand
       
       Die Hitzemaschine brummt, jeden Tag dreht sie ein bisschen mehr auf, der
       Körper köchelt vor sich hin. Eigentlich mag ich die heißen Tage; wenn aber
       ab Mitte Juni schon die Hasenheide und das Tempelhofer Feld verdorrt sind,
       kommt eine gehörige Portion Unbehagen dazu. „Grünanlagen“ würden zu
       „Braunanlagen“, steht in der FAS.
       
       Ein bisschen rammdösig macht dieses Wetter, immerhin bietet es einen
       Anlass, mal wieder das Wort „rammdösig“ zu benutzen. In der Wohnung ist es
       Samstagmorgen noch nicht ganz so heiß, ich schaue circa zehn Mal
       hintereinander [1][Regina Spektors neues Video „Loveology]“. Es rührt mich
       fast zu Tränen. Wenigstens mal eine andere Körperflüssigkeit als Schweiß.
       
       Das Wochenende verbringe ich zum Großteil [2][mit Heinz Strunk] am
       Timmendorfer Strand. Also nicht wirklich, sein Roman „Ein Sommer in
       Niendorf“ spielt dort. Wie so oft bei Strunk ist alles verwegen, verkommen,
       verdorben, der Mensch ist auf seine unappetitliche Essenz reduziert.
       
       Ein Typ namens Roth – mittleres Alter, gebildet und „gut situiert“, wie es
       in einer Kontaktanzeige wohl heißen würde – will in Niendorf eine
       Geschichte über das Unternehmen seiner Familie schreiben, das sich in der
       Nazizeit mit dem Regime arrangierte und Kriegsprofite einfuhr. Aus diesem
       Vorhaben wird nichts. Stattdessen wohnt man dem völligen Verfall dieses
       Mannes und dem Auffliegen seiner Lebenslügen bei.
       
       Roth schreibt kaum noch, sein Alltag besteht aus Saufen, Fressen und
       Ficken. Seinem Vermieter Breda, der ein örtliches Spirituosengeschäft
       betreibt („Da hat einer sein Hobby zum Beruf gemacht“), wird Roth immer
       ähnlicher. In der Ödnis dieses Touristenortes, dem „Aroma von Verfall,
       Fäulnis, Verhängnis“, suhlt sich Strunk. Das kann er, wie kaum ein anderer.
       
       Rocko Schamoni im Festsaal 
       
       Zwischendurch blitzt aber eben doch immer etwas Weltzugewandtes,
       Menschenzugewandtes durch – vielleicht die interessantesten Lesemomente.
       
       „Wenn man nicht verrückt werden will, muss man immer aufs Neue so tun, als
       wäre alles ganz normal“, lautet ein Satz aus diesem Niendorf-Universum,
       und von diesem Satz und von Heinz Strunk aus ist es nicht weit zu dessen
       Hamburger Studio-Braun-Kollegen Rocko Schamoni und zu Heino Jaeger.
       
       Schamoni hat ein Buch über die Lebensgeschichte Jaegers geschrieben
       ([3][„Der Jaeger und sein Meister“, hanserblau, 2021]), am Sonntagabend
       stellt er es im Festsaal Kreuzberg vor. Jaeger war ein begnadeter Zeichner,
       Satiriker und Hörspielmacher, lebte lange in St. Pauli, ehe er nach viel
       Alkohol, LSD und Wahn seine letzten Lebensjahre in der Psychiatrie
       verbrachte und 1997 starb. Strunk und [4][Schamoni sind gleichermaßen
       erklärte Jaeger-Fans], auch für Helge Schneider und viele andere waren
       Jaegers Werke prägend.
       
       Schamoni, der mit Tee, Bier und Laptop auf der Bühne sitzt, liest nicht nur
       aus dem Buch, er erzählt auch weitere Anekdoten aus Jaegers Leben, zeigt
       Zeichnungen, spielt Hörstücke. Aus der Reihe „Lebensberatungspraxis Dr.
       Jaeger“ ist „Passkontrolle“ zu hören.
       
       Dieses absurde Stück Komik zu beschreiben verbietet sich eigentlich – man
       muss den Irrsinn um einen pensionierten Grenzbeamten schon selbst hören
       ([5][die 2:52 Minuten auf Youtube sind gut investierte Zeit, glauben Sie
       mir]). Danach versteht man auch, warum Helge Schneider ihn verehrte –
       dessen frühe Hörspiele gehen in eine ähnliche Richtung.
       
       Schamoni erzählt auch davon, wie Jaeger einst im Kleiderschrank hockte und
       darin stundenlang Aufnahmen einsprach: spontan erfundene Geschichten,
       Gelaber eines Hochbegabten. Einen Ausschnitt daraus spielt Schamoni an,
       nach ein paar Minuten aber sagt er zum Techniker: „Fade das mal aus jetzt,
       das geht sonst noch ungefähr 16 Stunden so weiter …“ Eineinhalb Stunden
       Show sind zu schnell vorbei, man will mehr von diesem Heino Jaeger sehen
       und hören, vielleicht sogar 16 Stunden lang.
       
       Am Sonntagabend hat die Hitzemaschine eine Stufe heruntergeschaltet, durch
       den Schlesischen Busch zieht während des Heimwegs ein zarter Windhauch.
       Zeit für eine kurze Atempause, bis zum nächsten Tag.
       
       28 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=lHaetZ-Vu8Y
   DIR [2] /Das-Teemaennchen-von-Heinz-Strunk/!5535783
   DIR [3] https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/der-jaeger-und-sein-meister/978-3-446-26603-2/
   DIR [4] /Erinnerungen-an-Kuenstler-Heino-Jaeger/!5853308
   DIR [5] https://www.youtube.com/watch?v=KEHVAytkjXQ
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
       
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