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       # taz.de -- Krieg gegen die Ukraine: Worum kämpft man eigentlich?
       
       > Um was geht es beim Ukrainekrieg? Um Territorium, Einfluss, Bodenschätze
       > – oder um Demokratie, Werte, Lebensweisen? Es ist ein hybrider Krieg.
       
   IMG Bild: Die Überreste eines Panzers liegen verlassen auf einer Straße ausserhalb von Kiew
       
       Seien wir ehrlich. Am Anfang, in den ersten Monaten dieses Krieges, saß man
       so oft man konnte vor den Livetickern. Mit der Zeit aber reduzierte sich
       das. Langsam. Der Krieg in der Ukraine ist sowohl ein Vernichtungsfeldzug
       mit einer kompletten Verheerung ganzer Landstriche – als auch ein zäher
       Abnützungskrieg, der auf Zermürbung setzt. Außerhalb der Ukraine hat
       Letzteres einen Nebeneffekt, der gerade in seiner Banalität schrecklich
       ist: Das Thema nützt sich ab.
       
       Gerade deshalb muss man trotzdem dranbleiben. Sonst wird es unmerklich zu
       einem Hintergrundrauschen. Dazu trägt auch eine anhaltende Verwirrung bei:
       Man kann zwar eindeutig Gut und Böse unterscheiden, aber eigentlich weiß
       man nicht, wo genau die Demarkationslinie verläuft. Vor Ort wissen die
       Ukrainer natürlich ganz genau, wo die Kampflinie ist. Aber hier stellt sich
       die Frage: Was ist die ideelle, die politische, die historische
       Grenzziehung? Worum kämpft man eigentlich?
       
       Joe Biden hat als amerikanischer Präsident in einem Gastbeitrag in der New
       York Times geschrieben: Die unprovozierte Aggression, die Bombardierung von
       Spitälern, die massenhafte Zwangsvertreibung mache diesen Krieg zu einer
       „moralischen Frage“. Der Angriff war völkerrechtswidrig, Kriegsverbrechen
       sind unmoralisch. Aber ist es das, worum man kämpft? Um eine Moralordnung,
       die in Frage gestellt wurde?
       
       Es gibt einen Aggressor, der a-moralisch handelt. Und es mag eine
       moralische Frage sein, den Opfern der Aggression beizustehen. In welcher
       Art auch immer. Aber das erklärt in keinster Weise, worum in der Ukraine
       gekämpft wird. So ist es alles andere als klar, was den Aggressor
       tatsächlich antreibt: Geostrategische Pläne? [1][Ökonomische Interessen?
       Großmachtphantasien?] All das bewegt sich auf sehr unterschiedlichen
       Ebenen.
       
       ## Macht, Gewalt, Aggression und psychische Disposition
       
       In solcher Unklarheit nimmt man gerne Zuflucht zur Psyche. Zu Erklärungen,
       die i[2][n der Psyche Wladimir Putins] jene Antwort zu finden hoffen, die
       im tatsächlichen Geschehen nicht eindeutig zu entziffern sind. Einerseits
       haben wir Macht, Gewalt, Aggression ohne Beschönigung – und andererseits
       mutmaßliche psychische Dispositionen Putins, etwa imperiale Träume, die das
       ideelle Vakuum füllen sollen. Das ersetzt nicht die Eindeutigkeit einer
       politischen, ideologischen Demarkationslinie.
       
       Zur Erinnerung: Der Kalte Krieg war das, was man eine Systemkonfrontation
       nannte zwischen dem kommunistischen Osten und dem kapitalistischen Westen.
       Das bedeutete nicht nur die Differenz unterschiedlicher Ökonomie,
       unterschiedlicher Gesellschaften, unterschiedlicher politischer Ordnungen.
       Es bedeutete auch eine klare Trennung: eine Trennung von Handel und
       Produktion. Eine Trennung der Gesellschaften, des Kulturellen. Und eine
       Trennung der politischen Einflusssphären. Der eiserne Vorhang zog die klare
       Trennlinie dieser Aufteilung.
       
       Heute aber haben wir nicht nur allerorts kapitalistische Verhältnisse – wir
       haben infolgedessen auch weit verzweigte wirtschaftliche Verflechtungen,
       die man nun mühsam zu trennen versucht. Stichwort Ölembargo. Wir haben auch
       vielfache gesellschaftliche Verbindungen, die nun auseinander dividiert
       werden sollen. Mehr noch – beide Seiten ziehen hier eine eindeutige
       Grenzlinie: [3][Putins Russland gegen den „dekadenten“ Westen] mit seinem
       „LGBTQ-Kapitalismus“.
       
       Und der Westen gegen einen autoritären Kapitalismus. Beide erklären das als
       Grenze gegen die Barbarei. Das ist der Diskurs. Und dieser zeigt: Wir
       hantieren mit alten Begriffen, mit alten Gegensätzen. Denn beide Momente
       zusammen ergeben, dass wir Systemkonflikt und Systemgleichheit zugleich
       haben. Ein Hybrid, eine Mischform. So wie es auch ein hybrider Krieg ist:
       eine Konfrontation bei eingeschränkten, aber aufrechten Handelsbeziehungen.
       
       Es ist keine neue Erkenntnis, dass Systeme, die auf Konkurrenz basieren,
       notwendig zu Konflikten führen. Heißt das nun: Die Großmächte – nicht die
       Menschen vor Ort – kämpfen um Territorium, um Einfluss, um Bodenschätze –
       oder um Demokratie, Werte, Lebensweisen? Kämpft man um das, was gleich ist
       oder um das, was verschieden ist? Auch das ein Hybrid.
       
       28 Jun 2022
       
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