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       # taz.de -- Die Wahrheit: Busfahrt des Grauens
       
       > Im Nirgendwo geschieht das Unausdenkliche: Mit einem Linienbus soll ein
       > Vortragsreisender an einen unbekannten Ort am Stadtrand gefahren werden …
       
       In einem altehrwürdigen Gebäude, möglicherweise dem Rathaus der Stadt,
       stellte man mich einem Vertreter der regionalen Kulturbehörde vor. Er
       sollte mich zum Ort meines Vortrags bringen. Den Namen des Herrn konnte ich
       wegen meiner Schwerhörigkeit leider nicht verstehen, deshalb will ich ihn
       im Folgenden mit Reimwalt angeben. Nachdem wir ein paar Worte gewechselt
       hatten, machten wir uns auf den Weg.
       
       Überraschenderweise sollte mit einem Linienbus zu der Industriehalle am
       Stadtrand gefahren werden, wo ich den Vortrag halten sollte. Aus
       Höflichkeit übte ich keine Kritik daran. Alles, was ich sagte, war: „Keine
       Sorge, mich interessiert nur noch das Unausdenkliche.“
       
       Ich nahm im vorderen Teil des Busses Platz, während Reimwalt die
       Fahrausweise besorgte. Er hielt in jeder Hand einen
       zigarettenschachtelgroßen schwarzen Gegenstand und fuchtelte damit vor dem
       Gesicht des Fahrers herum, bis der Vorgang abgeschlossen war. Weil sich der
       Bus inzwischen stark mit Passagieren gefüllt hatte, konnte Reimwalt nicht
       bis zu mir vordringen.
       
       Neben mir saß eine etwa siebzigjährige weißhaarige Dame, die mich fragend
       ansah. Was lag näher, als ihr von meiner beruflichen Tätigkeit und deren
       Bedeutung zu erzählen! Auch von Luft und Wasser sprach ich. Sie schwieg
       dazu, doch ihr Blick wurde immer fragender. Bemüht, ihr alles möglichst
       laienverständlich nahezubringen, konzentrierte ich mich vollkommen auf
       meine Rede.
       
       Erst nach einer ganzen Weile fiel mir die Frau wieder ein. Ich wollte an
       ihrem Gesichtsausdruck ablesen, ob sie mir folgen konnte, doch ein
       gleichgültig aussehender, dicker Mann saß jetzt auf ihrem Platz. Reimwalt
       konnte ich ebenfalls nicht mehr entdecken. Der Bus hatte angehalten, und
       ich nahm an, mein Begleiter sei von den Aussteigenden mitgerissen worden,
       ohne mir ein Zeichen geben zu können. Um ihn wiederzufinden, begab ich mich
       ins Freie.
       
       Draußen bot sich mir ein chaotischer Anblick. Es gab keine festen Straßen
       für den Verkehr, sondern nur schlammige Feldwege. Auf einer leichten Anhöhe
       hatte sich ein anderer Bus in bedenklicher Schieflage festgefahren. Etwas
       weiter unten steckte rechter Hand ein weiteres Gefährt gleicher Bauart
       manövrierunfähig im Schlamm. Trotzdem drängten sich alle, die soeben
       ausgestiegen waren, vor den beiden Bussen und wollten unbedingt hinein.
       Auch Reimwalt befand sich unter ihnen. Bei dieser Gelegenheit sah ich ihn
       zum letzten Mal.
       
       Als Einziger kehrte ich in den fahrbereiten, jetzt leeren Bus zurück. Der
       Fahrer war damit beschäftigt, ein Protokoll für künftige Generationen zu
       schreiben. Mir ein Beispiel daran nehmend, zog ich mein Notizbuch hervor.
       Durchs Fenster neben mir sah ich beiläufig, wie die beiden anderen Busse
       plötzlich himmelwärts schwebten und verschwanden. Aus dem Kopf des Fahrers
       vor mir wuchsen Spalierrosen. Etwas hatte sich verändert, vielleicht die
       Zusammensetzung der Luft oder des Lichts.
       
       30 Jun 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eugen Egner
       
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