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       # taz.de -- Verkehrserziehung vorläufig gerettet: Verkehrsschule mit Verfallsdatum
       
       > Die Jugendverkehrsschule in Schöneberg soll einem Bürohaus weichen. Aus
       > der Abschieds- wurde an diesem Sonntag aber eine vorläufige
       > Auferstehungsparty.
       
   IMG Bild: Übungsfahrt in der Jugendverkehrsschule
       
       Berlin taz | Das einzige Geräusch ist das Rauschen der Autobahn im
       Hintergrund. Sonst ist es auf dem Platz der Jugendverkehrsschule am
       Sachsendamm in Schöneberg mucksmäuschenstill. Hochkonzentriert drehen 27
       Viertklässler auf Rädern ihre Runden. Alle tragen Helme und gelbe
       Warnwesten mit Nummern.
       
       Es gibt eine Ampel, einen Kreisverkehr, einen Zebrastreifen, eine
       Bushaltestelle und viele Verkehrsschilder – alles wie auf einer richtigen
       Straße, nur kleiner und komprimierter. „Handzeichen“, ruft Detlef Haake
       einem Jungen zu, der von der Straße auf den Radweg abbiegt, ohne den Arm
       auszustrecken.
       
       Haake verfolgt das Geschehen vom Balkon des Schulungsgebäudes aus. Der
       pensionierte Lehrer hat die Fahrradprüfung am vergangenen Dienstag
       organisiert, die letzte vor den Sommerferien. Genau genommen ist es eine
       Nachprüfung, die Kinder sind beim ersten Mal durchgefallen. Zwei Polizisten
       mit Schreibkladden nehmen die Prüfung ab.
       
       14.000 Schülerinnen und Schüler aus 21 Schöneberger Grundschulen erhalten
       in der Verkehrsschule am Sachsendamm jedes Jahr Verkehrsunterricht. Die
       Schule ist eine von insgesamt 25 Verkehrsschulen in Berlin. Betreiber der
       Einrichtung am Sachsendamm ist die Wendepunkt gGmbH.
       
       ## Ein Jahr Aufschub
       
       Die hatte am gestrigen Sonntag eigentlich zur Abschiedsparty geladen, denn
       die Tage der seit den 1980er Jahren in Schöneberg befindlichen
       Jugendverkehrseinrichtung sind gezählt. „Untergangsparty“ nannte es
       Wendepunkt-Geschäftsführer Joachim Hampel im Vorfeld gegenüber der taz. Da
       ahnte er noch nicht, dass die Dinge einen ganz anderen Verlauf nehmen
       würden. Aus der Untergangsparty mit Luftballons und Grillwürstchen wurde
       eine Auferstehungsparty.
       
       Die zuständige Baustadträtin Angelika Schöttler (SPD) verkündete die frohe
       Botschaft am Sonntag höchstpersönlich: Der Standort sei ein weiteres Jahr
       bis zum Beginn der Sommerferien 2023 gesichert.
       
       Für die [1][Betreiber und Unterstützer der Verkehrsschule waren die letzten
       Wochen ein Auf und Ab]. Die Firma Möbel Krieger, Eigentümerin des
       Grundstücks, hatte der Einrichtung zu Mitte Juni gekündigt. Um wenigstens
       noch die Fahrradprüfungen des aktuellen Schuljahrs abschließen zu können,
       gewährte Krieger bis zum 15. Juli eine Fristverlängerung. Der Bezirk hatte
       den Aufschub erwirken können.
       
       Die Lage sei kompliziert, so Baustadträtin Schöttler (SPD). Kurz
       zusammengefasst ist es so: Das Land Berlin hat das Grundstück Anfang der
       2000er Jahre an die [2][Firma Krieger] verkauft. Gleichzeitig wurde die
       Firma verpflichtet, auf dem Ersatzgrundstück für die Verkehrsschule, das
       der Bezirk besorgt, eine neue Verkehrsschule zu bauen. Der Bezirk suche
       händeringend nach einem Ersatzstandort, sagt Schöttler. Zwei Flächen seien
       in der engeren Auswahl, weitere würden geprüft
       
       Aber die Geschichte geht noch weiter: Krieger möchte auf der Fläche, auf
       der sich die Verkehrsschule befindet, ein Bürohochhaus bauen – schräg
       gegenüber vom firmeneigenen Möbelhaus Höffner, das sich auf der anderen
       Seite am Voralberger Damm befindet. Ein Gebäude in dieser Höhe sei dort
       aber nicht genehmigungsfähig, sagt Schöttler. Die Verhandlungen mit Krieger
       dauerten deshalb an.
       
       Bis sich Bezirk und Firma auf einen Bebauungsplan verständigt hätten,
       würden „noch Jahre vergehen“, ist sie sicher. Das Grundstück so lange leer
       zu lassen, mache keinen Sinn. „Das beste Szenario wäre, dass die
       Verkehrsschule so lange auf dem Grundstück bleiben kann, bis die Bagger
       kommen.“ Dafür, so die Baustadträtin, „setze ich mich ein“.
       
       ## Bezirk hat geschlafen
       
       Unschuldig an der Misere ist der Bezirk indes nicht. Obwohl die Pläne von
       Krieger seit Jahren bekannt seien, „hat es der Bezirk verpennt, sich um ein
       Ersatzgrundstück zu kümmern“, schimpft Detlef Haake. Dass Krieger der
       Verkehrsschule nun ein weiteres Jahr Aufschub gewährt, freue ihn, aber die
       Untätigkeit des Bezirks sei ein Skandal.
       
       Haake, graue Haare, grauer Bart, passionierter Radfahrer, hat 36 Jahre als
       Lehrer in Neukölln die Verkehrserziehung organisiert, 25 Jahre war er
       Fachberater für Mobilitätsbildung. Aktuell organisiert er im Auftrag der
       Verkehrswacht berlinweit Fahrradnachprüfungen, die in den letzten zwei
       Jahren coronabedingt ausgefallen sind.
       
       Martin Wollny und Yvonne Gutwillige heißen die beiden Polizeibeamten, die
       an diesem Tag die Nachprüfung abnehmen. Wollny macht das seit 13 Jahren.
       Seine Beobachtung ist, dass die Kinder kontinuierlich schlechter
       abschneiden. „Bei dem Computerspiel Fortnite sind sie ganz vorne, aber beim
       Radfahren und Schwimmen ganz hinten.“
       
       [3][Das Können stehe und falle mit den Eltern]. Wenn Sport und Bewegung zu
       Hause keine Rolle spielten, brauche man sich nicht zu wundern. Das
       Unvermögen betreffe aber nicht nur Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern.
       Propeller-Eltern, die ihre Kinder überallhin mit dem Auto brächten, weil
       sie den [4][Straßenverkehr für zu gefährlich] hielten, seien nicht besser.
       
       Kinder, die sich kaum auf dem Fahrrad halten können, könnten sich erst
       recht nicht auf die Verkehrsschilder konzentrieren, bestätigt Kommissarin
       Gutwillige. Viele Kinder könnten nicht einmal sagen, wo rechts und links
       sei. „Wir haben ihnen schon einen Punkt auf Schuhe oder Hand geklebt als
       Erinnerungsstütze.“ Das Gute sei, dass die Altersstufe der Viertklässler
       enorm aufnahmefähig sei, sagt Wollny. Und mit der Polizei hätten sie auch
       keine Probleme, „die finden uns noch richtig gut“.
       
       20 Minuten dauert die Prüfungsfahrt, bei der alle Prüflinge gleichzeitig im
       Parcours unterwegs sind. Alle vierten Klassen haben Anspruch auf eine
       Verkehrsbeschulung durch die Polizei, nach mehreren Übungstermine auf dem
       Platz folgt die Fahrradprüfung. Nachmittags und in Ferienzeiten auch
       vormittags steht die Verkehrsschule allen Altersgruppen offen, [5][Eltern
       können mit ihren Kindern dort genauso üben wie Erwachsene]. Fahrräder
       können für das Training auf dem Gelände kostenlos ausgeliehen werden.
       
       ## Hohe Durchfallquote
       
       „Nummer 8, gut gemacht!“, ruft Haake einer Radfahrerin zu, die vor dem
       Abbiegen einen vorbildlichen Schulterblick nach links gemacht hat.
       „Durchhalten,“ muntert er einen Jungen auf, der sich mit seinem Rad, das
       gefährlich wackelt, mühsam vorwärts bewegt. Endlich ist es vorbei.
       
       Gutwillige ruft die Kinder im Schulungsraum zusammen. Nur 10 der 27 haben
       die Prüfung bestanden. Tränen gibt es nicht aber die Enttäuschung ist groß.
       Die meisten hätten kein eigenes Rad zu Hause, sagt eine Mitarbeiterin der
       Verkehrsschule. Alle könnten wiederkommen, trainieren und es dann noch mal
       versuchen.
       
       Ein weiteres Jahr lang noch, aber was dann? Seine Sorge sei, dass sich das
       Szenario im nächsten Sommer wiederholt, sagt Haake. Die zweite
       Verkehrsschule, die der Bezirk im Stadtteil Mariendorf hat, sei für viele
       Kinder und Eltern keine Option. „Zu weit weg und total überlaufen“.
       
       3 Jul 2022
       
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