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       # taz.de -- Die Wahrheit: Gnadenhof für Blutegel
       
       > Tagebuch einer Helferin: Wenn eine Freundin in Corona-Quarantäne steckt
       > und es ihr nach Natur verlangt, bleiben eigentlich nur Naturfilme.
       
       Halb Deutschland hängt mal wieder in Quarantäne, so auch Freundin A., die
       zur Schonung ihrer WG in die zurzeit verwaiste Wohnung einer Bekannten zog.
       Üblicherweise bestehen A.s Tage und Nächte aus reger Teilnahme am
       Kulturleben mit angeschlossenem geselligen Gastronomiebesuch, und alsbald
       erreichte mich der erwartete Notruf. „Hier gibt’s nicht mal ’nen Fernseher!
       WLAN auch nicht! Nur Bücher!“ Sie sei am Limit, ächzte sie, sie habe jetzt
       mal genug „von allem“ und verlangte zur Entspannung nach Naturfilmen.
       
       Mein Verhältnis zur Natur kann bestenfalls als distanziert bezeichnet
       werden, ich neige eher zum Desasterfilm, denn ich habe einen ausgeprägten
       Hang zum Pessimismus und rechne spätestens seit dem Beginn der Pubertät
       damit, dass es demnächst sowieso „mit allem“ vorbei ist. Meiner Meinung
       nach ist man auf den drohenden Untergang viel besser vorbereitet, wenn man
       zum Beispiel schon mal zugeschaut hat, wie in Lars von Triers Film
       „Melancholia“ der Menschheit ein Meteorit auf den Kopf fällt. Ich entspanne
       aber auch gern bei Tarantino-Showdowns, in denen es dem Bösen mit
       Flammenwerfern oder anderem Gerät spektakulär an den Kragen geht.
       
       Etwas widerwillig begann ich also mit der Suche nach Naturigem für A. und
       landete in einer Doku über Weißspitzenhaie. „Die Tiere sind empfindsam“,
       erklärte der offenbar ebenso sensible Sprecher sanft, und in Erwartung
       farbenfroher Korallenriffe und anmutiger Fischschwärme lehnte ich mich
       zurück.
       
       In der folgenden Szene wurde ich Zeuge, wie einer der empfindsamen Burschen
       die Zähne in die Flosse einer Haidame schlug und sie ausgiebig
       herumschleuderte. „Männliche Haie verbeißen sich bei der Begattung in eine
       Flosse des Weibchens. Die Bisse reißen tiefe Wunden, doch die Haut der
       Weibchen ist doppelt so dick wie die der Männchen und heilt schon in
       wenigen Wochen!“, frohlockte der Kommentator.
       
       Wenigstens hat sie zwei von den Dingern, dachte ich in einem seltenen
       Anfall von Optimismus, nur um mitansehen zu müssen, wie das romantische
       Paarungsritual mit dem Auftauchen eines Konkurrenten in einen blutigen
       Dreier ausartete. Spätestens mit den folgenden Infos über Kannibalismus in
       Utero – kräftigere Babyhaie laben sich schon im Mutterleib an ihren weniger
       fitten Geschwistern – erschien mir A. mit ihrer Begeisterung fürs
       Natürliche in anderem Licht.
       
       Nach der Quarantäne hatte A. wegen Bewegungsmangel Hüfte, und als Therapie
       ließ sie sich Blutegel setzen. Entzückt berichtete sie, einer der
       niedlichen Sauger wollte partout nicht von ihr abfallen, er sei bei der
       Arbeit eingeschlafen. Kurz darauf erfuhr sie zu ihrem Entsetzen, dass die
       Helferlein nach getaner Pflicht entsorgt werden, seitdem denkt sie über
       einen Gnadenhof für ausgediente Blutegel nach. Demnächst soll es in die
       Planungsphase gehen, aber bis dahin kann uns ja noch so einiges auf den
       Kopf fallen.
       
       7 Jul 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Pia Frankenberg
       
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