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       # taz.de -- Lehren aus dem Wahlchaos in Berlin: Sie hatten die Wahl
       
       > Eine Kommission kritisiert die Berliner Politik scharf: Sie habe die
       > Komplexität der Wahl völlig unterschätzt. Das Chaos sei vermeidbar
       > gewesen.
       
   IMG Bild: Kam viel häufiger vor als bisher gedacht: Lange Warteschlangen in Wahllokalen
       
       Berlin taz | Der Satz klingt wie eine Anleitung für ein Land, das zum
       ersten Mal demokratische Wahlen abhält: „Die Berlinerinnen und Berliner
       müssen künftig mit geringen Aufwand rechtssicher wählen können“, sagt
       Stefan Bröchler, Professor für Verwaltungswissenschaft an der Hochschule
       für Wirtschaft und Recht Berlin. Und fügt hinzu: „Das war [1][am 26.
       September 2021 nicht immer gewährleistet].“
       
       Bröchler ist eines von 21 Mitgliedern einer vom Senat selbst eingesetzten
       Expert*innenkommission, die den teils chaotischen Ablauf der Wahlen im
       September in Berlin betrachten und vor allem Verbesserungsvorschläge für
       die nächsten Wahlen vorlegen sollte. Am Mittwoch stellte die Kommission vor
       allem aus Jurist*innen, Verwaltungsexpert*innen und
       Wahlamtsleiter*innen ihre Ergebnisse vor. Die Berliner Politik kommt
       dabei schlecht weg. „Die gravierenden Probleme bei der Wahl wären ohne
       weiteres vermeidbar gewesen“, sagt Robert Vehrkamp von der Bertelsmann
       Stiftung.
       
       Der Grund: Senat und auch das Abgeordnetenhaus hätten die „logistische
       Hausforderung der Vierfachwahl massiv unterschätzt.“ Die Kommission schlägt
       daher vor, die Position der Landeswahlleiterin zu stärken – diese sei
       derzeit eine „Königin ohne Land“ –, und ein Landeswahlamt einzurichten, das
       zentrale Vorgaben zur Durchführung der Wahl machen und auch durchsetzen
       soll. Denn eine Ursache für die vielen Pannen seien mangelhafte Abstimmung
       und ein „Pingpong“ zwischen Bezirken und Landeswahlleiterin mit unklaren
       Verantwortlichkeiten gewesen.
       
       Am 26. September 2021 musste Berlin eine Vierfachabstimmung organisieren.
       Gewählt wurden Bundestag, das Abgeordnetenhaus und die Bezirksparlamente;
       dazu kam der Volksentscheid Deutsche Wohnen und Co. enteignen – das ganze
       unter Coronabedingungen und mit einem parallel stattfindenden Marathon in
       der Innenstadt mit zehntausenden Teilnehmer*innen und noch mehr
       Zuschauer*innen.
       
       In zahlreichen Wahllokalen kam es [2][zu unübersichtlichen Zuständen].
       Wahlzettel gingen früh aus oder es wurden falsche ausgegeben. Vielfach
       bildeten sich lange Schlagen mit Wartezeiten von mehr als 1,5 Stunden, was
       dazu führte, dass oft auch weit nach 18 Uhr noch gewählt wurde. Schnell war
       von einer Chaoswahl die Rede. Daraufhin trat die Landeswahlleiterin zurück
       und der Senat setzte Ende November die Expert*innenkommission ein.
       
       ## Muss die Wahl teilweise wiederholt werden?
       
       Inzwischen steht wegen der massiven Probleme [3][eine teilweise oder
       komplette Wiederholung der Wahlen im Raum]. Im Falle der Wahl zum
       Abgeordnetenhaus entscheidet darüber voraussichtlich bis Ende des Jahres
       das Landesverfassungsgericht, das [4][nach Einsprüchen gegen
       Wahlergebnisse] ein Wahlprüfungsverfahren eingeleitet hatte. Über eine
       Wiederholung der Bundestagswahl in einigen oder allen zwölf Berliner
       Wahlkreisen muss der Bundestag auf Basis einer Empfehlung seines
       Wahlprüfungsausschusses befinden.
       
       Es war nicht Auftrag der Senatskommission, die Frage einer möglichen
       Wahlwiederholung zu erörtern. Wer konkret für die Pannen verantwortlich ist
       – dazu will sich keiner der vier Kommissionsmitglieder, die den Bericht vor
       der Presse vorstellen, konkret äußern. Christian Waldhoff, Juraprofessor an
       der Humboldt-Universität Berlin, wagt sich immerhin so weit vor, dass er
       mit Blick auf den damaligen Innen- und heutigen Stadtentwicklungssenator
       Andreas Geisel (SPD) erklärt: „Die Innenverwaltung hat die Aufsicht über
       die Wahlen: Das bedeutet auch Begleitung und nicht nur nachträgliche
       Kontrolle.“
       
       Geisel selbst will sich nach Auskunft seines Sprechers nicht zu dem Bericht
       äußern, die Zuständigkeit liege bei seiner Nachfolgerin, Innensenatorin
       Iris Spranger (SPD). Jene kündigte an, alles daran zu setzen, „gründlich
       die Lehren aus der Aufarbeitung der aufgetretenen Probleme zu ziehen“. Man
       werde „zügig konkrete Maßnahmen zur Umsetzung der Empfehlungen treffen“.
       Und der Linksparteiabgeordnete Sebastian Schlüsselburg erklärte: „Die
       Koalition wird auf der Grundlage der Empfehlungen einen Gesetzentwurf
       erarbeiten, um das Berliner Wahlrecht in das 21. Jahrhundert zu holen.“
       
       Das wird keine leichte Aufgabe, denn laut der Kommission muss die
       Arbeitsteilung zwischen Bezirken und Land bei Wahlen grundsätzlich
       verändert werden – zugunsten des Landes durch die Stärkung des Amts der
       Landeswahlleiterin. Sie müsse Abläufe standardisieren, so dass zum Beispiel
       nicht wie bisher in jedem der zwölf Bezirke die Wahlhelfer*innen
       unterschiedlich geschult werden.
       
       ## Probleme erkannt, aber nicht gelöst
       
       Vor allem müsse bei ihr die Verantwortlichkeit gebündelt werden, die
       Aufgaben auf Land- und Bezirksebene klarer definiert und die Zusammenarbeit
       grundlegend verbessert werden. So hätte zum Beispiel verhindert werden
       können, dass der Landeswahlleiterin zwar schon im Vorfeld der Wahl bekannt
       gewesen sei, dass fehlerhafte und falsch sortierte Stimmzettel aus der
       Druckerei geliefert wurden – Konsequenzen daraus aber nicht umgesetzt
       wurden. Auch sei im Vorfeld absehbar gewesen, dass es zu wenige Wahlurnen
       in zu wenigen Wahllokalen gebe – deren Zahl wurde dennoch nur leicht
       erhöht.
       
       Es seien diese strukturellen Mängel und organisatorischen Defizite gewesen,
       die für die [5][gravierendsten Mängel bei der Wahl] verantwortlich seien,
       nicht Corona, nicht die Vierfachwahl – das hätten Erfahrungen aus den
       Stadtstaaten Hamburg und Bremen gezeigt. Die Bündelung von Wahlterminen
       empfehlen die Expert*innen explizit weiterhin: Durch die höhere
       Wahlbeteiligung werde eine höhere Legitimität der Ergebnisse erreicht.
       Großereignisse wie der Marathon sollten hingegen nicht mehr parallel
       stattfinden, weil so die Bedeutung von Wahlen gemindert würde.
       
       Das zu schaffende Landeswahlamt solle auch jenseits der Wahlen aktiv für
       Bürgerbeteiligung werben und damit wohl auch dem von der Kommission
       konstatierten durch das Wahlchaos entstandenen Vertrauensverlust bei den
       Berliner*innen „in den wichtigsten demokratischen Mitwirkungsakt“
       entgegenwirken. Der 62-seitige Bericht endet dann auch mit einem Appell an
       die Berliner*innen. Der Ärger über den Wahltag sei berechtigt und
       nachvollziehbar. „Gerade deshalb bitten wir Sie: Vertrauen Sie auch in
       Zukunft der staatlichen Wahlorganisation, die ihre eigenen Fehler
       aufarbeitet, die Verantwortung dafür übernimmt und ihre Lehren daraus
       ziehen will.“ Mal sehen, ob das wirklich passiert.
       
       6 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Bert Schulz
       
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