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       # taz.de -- Rücktritt von Boris Johnson: Die Konservativen schütteln ihn ab
       
       > Boris Johnson hatte für die Tories den größten Wahlsieg seit der Ära
       > Margaret Thatchers eingefahren. Aber sein Politikstil wird ihm nun zum
       > Verhängnis.
       
   IMG Bild: Einen Tag vorher, am 6. Juli im Parlament, war Johnson noch entschlossen, zu bleiben
       
       Das Redepult war schon in der Londoner Downing Street aufgebaut. Es war
       12.30 Uhr Ortszeit. Alle warteten auf den britischen Premierminister und
       seine angekündigte Rücktrittserklärung. Da sprach einige hundert Meter
       weiter seine Vorgängerin Theresa May den zentralen Nachrufsatz für Boris
       Johnson aus: „Es kommt eine Zeit, wo man als Führer anerkennen muss, dass
       das Vertrauen nicht mehr da ist.“
       
       Die konservative Politikerin hielt nämlich gerade einen Vortrag im
       renommierten „Institute for Government“ auf der anderen Seite des St. James
       Park, im Herzen des Londoner Regierungsviertels. Eine halbe Minute später
       trat Boris Johnson vor die schwarze Tür von 10 Downing Street und erklärte
       schnörkellos: „Es ist jetzt offensichtlich [1][der Wille der Konservativen
       Partei] im Parlament, dass es einen neuen Führer dieser Partei geben soll
       und damit einen neuen Premierminister.“
       
       Es war wie ein unfreiwilliger Dialog zwischen zwei Rivalen, deren
       gegensätzliche Charaktere die Zerreißprobe der britischen Konservativen
       beleuchten. Beide starteten einst in 10 Downing Street unter großen
       Hoffnungen und endeten nach drei Jahren als Versager. Bei ihrer
       Rücktrittserklärung vor der schwarzen Tür 2019 kamen Theresa May die
       Tränen, als sie davon sprach, „dem Land zu dienen, das ich liebe“. Boris
       Johnson flüchtete sich jetzt in grimmigen Sarkasmus, als er die Abwendung
       seiner Partei von ihm mit den Worten „Wenn die Herde läuft, läuft sie“
       bezeichnete.
       
       ## In jeder Hinsicht am Ende
       
       Ihren Vortrag mit dem Titel „Wiederherstellung des Vertrauens in die
       Politik“ hätte sie ohne die aktuellen Ereignisse genauso gehalten, betonte
       Theresa May. Doch deutlicher hätte in diesen Minuten niemand erklären
       können, warum die britischen Konservativen jetzt den Premierminister
       loswerden wollen, der sie vor erst zweieinhalb Jahren zu ihrem größten
       Wahlsieg seit der Ära Margaret Thatchers geführt hatte und den sie noch
       heute für den Brexit, die Impfprogramme und die Ukraine-Politik loben. Das
       Vertrauen in Boris Johnson ist weg.
       
       Noch am 6. Juni hatte die konservative Parlamentsfraktion bei einem
       parteiinternen Misstrauenvotum ihrem Premier mit 211 von 359 Stimmen das
       Vertrauen ausgesprochen, 148 stimmten gegen ihn. Einen Monat später,
       zwischen dem Abend des 5. und dem Morgen des 7. Juli, sind innerhalb
       kürzester Zeit rekordverdächtige 59 konservative Abgeordnete von ihren
       Regierungsämtern zurückgetreten, um Boris Johnson klarzumachen, dass seine
       Zeit abgelaufen ist. Im Parlament beklagten Labour-Abgeordnete bei einer
       Geschäftsordnungsdebatte am Donnerstagvormittag, dass manche Ministerien
       jetzt gar nicht mehr besetzt seien.
       
       Boris [2][Johnsons Regierung ist in jeder Hinsicht am Ende]. Der Premier
       hat sich das in erster Linie selbst zuzuschreiben, darüber ist sich seine
       Partei einig. In der Kritik steht nicht seine politische Orientierung, die
       erst vor Kurzem kein Geringerer als der ehemaliger Labour-Premierminister
       Tony Blair als „zentristisch“ und unkontrovers lobte – also nach der
       Vollendung des Brexit die Angleichung der Lebensverhältnisse in
       Großbritannien voranzutreiben, damit abgehängte Regionen und
       Bevölkerungsschichten wieder Anschluss finden. „Genie und Talent und
       Enthusiasmus und Vorstellungskraft sind im Land gleich verteilt, Chancen
       sind es nicht“, hämmerte Johnson noch in seiner Rücktrittserklärung in
       einer schon öfter genutzten Formulierung, die genau so auch von Labour
       kommen könnte; das müsse man ändern und dann „werden wir das wohlhabendste
       Land in Europa“.
       
       In der Kritik steht Boris Johnsons Fähigkeit, aus dieser Vision
       funktionierende Politik zu machen. „Die Öffentlichkeit erwartet zu Recht,
       dass die Regierung ordentlich, kompetent und ernsthaft geführt wird“,
       erläuterte Finanzminister Rishi Sunak bei seinem Rücktritt am 5. Juli. Sein
       Nachfolger Nadhim Zadhawi sagte zwei Tage später, der Premierminister
       „untergrabe“ seine bisherigen Errungenschaften und das Land brauche eine
       „integre“ Regierung. Zwischendurch donnerte der oberste Rechtsberater der
       Regierung, Alex Chalk, in seinem Rücktrittsschreiben: „Das öffentliche
       Vertrauen in die Fähigkeit von 10 Downing Street, die von einer britischen
       Regierung erwarteten Redlichkeitsstandards einzuhalten, ist
       unwiederbringlich zusamengebrochen.“ Und am Abend des 6. Juli fassten fünf
       Staatsministerinnen und Staatsminister in ihrem kollektiven Rücktrittsbrief
       den Parteikonsens zu ihrem Chef zusammen: „Wir bewundern deine Stärke,
       Ausdauer und anhaltenden Optimismus (…) doch es ist immer klarer geworden,
       dass die Regierung nicht funktionieren kann.“ Es geht bei Boris Johnsons
       erzwungenem Rücktritt nicht um politische Inhalte, sondern um politischen
       Stil.
       
       ## Nicht nur ein Stilwechsel steht bevor
       
       Linke Kritiker, die Johnson als Rechtspopulisten abschreiben und damit
       seinen politischen Werdegang auf dem gesellschaftlich liberalen und
       ökonomisch interventionistischen Flügel der Konservativen ignorieren,
       könnten sich aber noch wundern – beim Nachfolgestreit steht nicht nur ein
       Stilwechsel zur Debatte, sondern auch ein Rechtsruck, mit Steuer- und
       Ausgabenkürzungen, einer härteren Gangart gegen Migranten und Minderheiten
       und einer Rückkehr zu vermeintlich konservativen Werten.
       
       Offen fordert dies David Frost, Johnsons ehemaliger Brexit-Minister, der
       ihm wiederholt vorgeworfen hat, er würde die „Chancen des Brexit“, also
       Deregulierung, nicht nutzen. Johnsons Regierung „gibt sich als konservativ,
       folgt aber den Modetendenzen der Londoner Linken“, giftete Frost am
       Mittwoch in einem Zeitungsbeitrag. Am Donnerstag jubelte Dominic
       Cummings,2016 Chefstratege der erfolgreichen Brexit-Kampagne „Vote Leave“
       und 2019–20 Boris Johnsons erster Chefstratege in 10 Downing Street: „Er
       ist von jenen gestürzt worden, die die ‚Leave‘-Kampagne führten.“ Sein
       Twitterprofil hat Cummings jüngst auf „Mitgründer Vote Leave, 2022–24
       Regimewechsel von Zuschauern zu Spielern“ verändert.
       
       Aber der Rechtsruck dürfte genauso eine Minderheitsposition bleiben wie die
       mancherorts verbreitete Zuversicht, mit Boris Johnson sei auch der Brexit
       am Ende. Keine seriöse Kraft in der britischen Politik will dieses
       Zerreißthema neu aufmachen – am allerwenigsten die Labour-Opposition, die
       genau weiß, dass das Gift für ihre Siegeschancen bei Neuwahlen wäre. In
       einer Grundsatzrede am Montag stellte Labour-Chef Keir Starmer klar: „Unter
       Labour wird Großbritannien nicht zurück in die EU gehen. Wir werden nicht
       dem Binnenmarkt oder der Zollunion beitreten. (…) Es wäre bloß ein Rezept
       für mehr Spaltung.“ Labours Ziel sei vielmehr „Make Brexit Work“ – den
       Brexit zum Funktionieren bringen. Diese Formel hatte er bereits in seiner
       Parteitagsrede 2021 verwendet, nun erklärt er sie zum Fundament seines
       nächsten Wahlprogramms.
       
       Gerade die Sicherheit, dass die Schlachten von Mittwoch nicht noch einmal
       ausgefochten werden müssen, gibt den Konservativen jetzt die Zuversicht,
       Boris Johnson abschütteln zu können und einen Neustart anzugehen. Theresa
       Mays Vortrag erweist sich da geradezu als Blaupause. „Anstand, Ehrlichkeit
       und Integrität“ seien die Grundlage für Vertrauen in der Politik,
       erläuterte sie. Genauso wichtig sei Bodenhaftung im eigenen Wahlkreis, das
       Einhalten von Regeln und die Übernahme von Verantwortung für das eigene
       Handeln.
       
       Was müsse Großbritanniens nächster Premier tun, wurde Theresa May am Ende
       gefragt. „Ich würde jemanden sehen wollen, der sich darauf konzentriert,
       Spaltung zu heilen, der das Land und die Partei vereinen will“, sagte sie
       nach einer Denkpause. Zuvor hatte die Moderatorin sie gefragt, ob sie sich
       vorstellen könnte, Übergangspremierministerin zu werden. Theresa Mays
       Antwort: „Ich glaube nicht, dass es einen Übergangspremier geben wird.“
       Aber geschmeichelt schien sie schon.
       
       7 Jul 2022
       
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