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       # taz.de -- Konzerte für die Natur in Ulrichshusen: Geigen für den Wald
       
       > Auf die Hymne folgt der Abgesang: Bei den Festspielen
       > Mecklenburg-Vorpommern feiern Patricia Kopatchinskaja und das Ensemble
       > Resonanz die Natur
       
   IMG Bild: Bäume in einem Wald in Mecklenburg: Solche Bilder gibt es zur Musik zu sehen
       
       Ulrichshusen taz | Sie ist so unglaublich wütend. Traktiert und quält ihre
       Geige, lässt sie jammern und quietschen, guckt zum Schluss geradeaus ins
       Publikum: ob sie auch verstanden sei. Denn die Wut der moldawischen, in
       Bern lebenden Geigerin Patricia Kopatchinskaja, die das gleichnamige Stück
       für Violine und Streichensemble schrieb, ist keine persönliche. Es ist eine
       gesellschaftspolitische, gerichtet gegen die Trägheit der Menschen
       angesichts des [1][Klimawandels].
       
       „Wir müssen unbedingt Druck auf die Politik ausüben. Wir müssen anpacken,
       sonst wird es eine unglaubliche Katastrophe, überall“, hat sie einmal in
       einem Interview gesagt. Damit meint sie auch die MusikerInnenszene und sich
       selbst: Sie reise zu viel [2][mit dem Flugzeug] und überlege gerade
       Alternativen, sagt sie. Gemeinsam mit den KonzertveranstalterInnen müsse
       man Tourneen künftig so planen, dass man nicht im Zickzack um den Globus
       fliege. Dass man Konzerte dort gebe, wo man mit dem Zug hinfahren könne.
       „Wir müssen all unsere Gewohnheiten ändern und aufhören, unsern Planeten zu
       verletzen“, fordert sie.
       
       Deshalb hat sie 2012 gemeinsam mit MusikerInnen der Staatskapelle Berlin
       das „Orchester des Wandels“ gegründet, das zugunsten von Umweltprojekten
       spielt – etwa für ein selbst gegründetes Projekt zur Wiederherstellung der
       Natur am Flussdelta des Pruth in Moldawien. Ein anderes ist das
       „Eben!Holz“-Projekt in Madagaskar, das der Aufforstung aussterbender
       Ebenhölzer dient. Denn aus ihnen werden jährlich 100 Millionen Griffbretter
       für Gitarren und Streichinstrumente hergestellt.
       
       ## Ein konzertantes Wochenende für den Wald
       
       Verständlich also, dass die eigenwillig-provokante Kopatchinskaja für das
       Motto „Im Walde. Ein Wochenende im Zeichen de Natur“ der Musikfestspiele
       Mecklenburg-Vorpommern sehr empfänglich war. Gemeinsam mit dem Hamburger
       [3][Ensemble Resonanz] – ein 18-köpfiges Streichensemble und das
       Residenzorchester der Elbphilharmonie, das ältere und zeitgenössische Musik
       kontrastiert – wird sie in zwei Konzerten den Wald feiern und betrauern.
       
       Dort vorab präsentiert das Ensemble Resonanz ein intermediales Prélude: die
       Klanginstallation „Kunstraum Wald“. Grundlage war das Stück „Wald für vier
       Streichquartette“, komponiert von Enno Poppe. Wobei man den Titel nicht
       wörtlich nehmen solle, sagt Tim-Erik Winzer, Erster Bratschist und
       dramaturgischer Vorstand des Ensembles. „In der abendländischen Musik steht
       das Streichquartett für die geistreiche Unterhaltung von vier Menschen“,
       sagt er. Die Komposition für 16 Musiker sei also ein Hyper-Streichquartett
       mit „unglaublich vielschichtiger Polyphonie, ein vielgestaltiges Gespräch“.
       
       Und da jeder der 16 Musiker eine eigene Stimme habe, sei man auf die Idee
       gekommen, das Stück begehbar zu machen, indem man jeden aufnahm, filmte und
       aus den so entstandenen großen Screens eine begehbare Installation schuf.
       „Das war auch der Coronapandemie und dem Lockdown geschuldet, denn so
       konnte man dem Musiker kontaktlos sehr nahe kommen“, sagt Winzer. Erstmals
       gezeigt wurde die Installation im Herbst 2021 im Hamburger Museum für Kunst
       und Gewerbe. Jetzt kann man sie in Ulrichshusen sehen und begehen.
       
       ## Staunen über die Natur
       
       Die beiden folgenden Konzertabende wirken dramaturgisch folgerichtig
       „Klangraum Wald“ heißt der erste, „Musica naturalis – „Abschied vom Wald“
       der zweite. „An diesem ersten Abend – einer Mischung aus zeitgenössischer
       Musik, Schubert und Mendelssohn – überwiegt das Staunen über Naturphänomene
       und das Überwältigtsein“, sagt Winzer, der das Programm maßgeblich
       mitkonzipierte.
       
       Das spiegele sich etwa in den Werken Giacinto Scelsis und Claude Viviers.
       Deren Stücke, entstanden 1967 bzw. 1980, hätten auf den ersten Blick nichts
       mit Natur zu tun, zeigen aber, wie KomponistInnen dieser Zeit die Natur
       immer wieder in ihre Kompositionen hineinwirken ließen – was damals nicht
       sehr üblich gewesen sei. So etwas galt als zu direkt, zu wenig verfremdet.
       
       „Dabei hatten diese beiden längst ihre Handschrift außerhalb des Kanons
       gefunden“, sagt Winzer. „Scelsi improvisierte erst und schrieb es dann auf,
       wie man es eher aus dem Jazz kennt. Und Viviers integrierte dezent
       japanische, teils auch balinesische Klänge in seine Kompositionen.“
       
       ## Gefährdung wird deutlich
       
       Beim zweiten Konzertabend stehe die Gefährdung der Natur schon deutlicher
       im Raum, sagt Winzer. Was auch daran liege, das weniger Zeitgenössisches
       und mehr Barockmusik erklinge, die Naturgeräusche imitiere und also
       beschreibe, was derzeit vergehe. Dazu Jean-Féry Rebels „Le Cahos“ aus „Les
       éléments“von 1738 sowie Andrzej Panufniks „12 Evocations for 12 Strings“
       aus „Arbor Cosmica“ über einen Lebensbaum, der auf dem Kopf steht. Eine
       Komposition von 1983, als man bereits alle Informationen zum Klimawandel
       hatte, der sich heute manifestiert.
       
       Auch sonst ist der Abend schlau konzipiert: Auf Kopatchinskajas besagte
       „Wut“ folgen Haydns Abschiedssinfonie sowie Anne Boyds „As I crossed a
       Bridge of Dreams“ für Chor a cappella. Vielleicht ein Funken Hoffnung. Und
       auch das Ensemble Resonanz kommt noch mal auf die Bühne. Alle halten eine
       Blume in einem kleinen Topf in der Hand.
       
       8 Jul 2022
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Petra Schellen
       
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