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       # taz.de -- Berlins Regierende in der Krise: Der Glanz ist dahin
       
       > Von wegen strahlende Macherin: Nach einer desolaten Woche muss sich
       > Franziska Giffey um ihren Stand in Partei und Koalition sorgen.
       
   IMG Bild: Ein bisschen arg abgehoben: Giffey diese Woche beim Rundgang auf der Luftfahrtausstellung
       
       Zwei Tage reichten, um SPD-Glamour-Girl Franziska Giffey auf den Boden der
       Berliner Landespolitik aufschlagen zu lassen. Beim Landesparteitag am
       Sonntag erhielt die Landeschefin bei ihrer [1][erstmaligen Wiederwahl
       lediglich 58,9 Prozent]; ein Absturz von 30 Prozentpunkten im Vergleich zu
       2020. Das ist selbst für die [2][als selbstzerstörerisch bekannten Berliner
       Sozialdemokraten] ein Rekord.
       
       Dazu stimmten die Delegierten mit großer Mehrheit für zwei Anträge, die
       inhaltlich weit von Giffeys politischer Linie liegen: Ein klare
       Distanzierung von der Verlängerung der Stadtautobahn 100, die die FDP im
       Bund forciert und Teile der SPD nicht ausschließen wollten, und ein
       deutlicher Schritt zu auf die Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen.
       Zu beiden Punkten äußerte sich Giffey auf dem Parteitag nicht: Als die
       Debatten begannen, war sie schon gegangen.
       
       Trotzdem dirigierte die Regierende Bürgermeisterin am Montag die
       Abgesandten aus Politik, Verbänden und Immobilienwirtschaft mit einem
       Dauerlächeln durch [3][die feierliche Unterzeichnung des Wohnungsbündnisses
       des Senats]. Selbst die verlief aber weniger glänzend als erhofft: Der
       berüchtigte schwedische Großvermieter Heimstaden war nicht zur Unterschrift
       bereit, obwohl ihm der Senat extra eine verlängere Frist dafür eingeräumt
       hatte.
       
       Auch die Koalitionspartner Grüne und Linke hielten ihre Bedenken nicht
       hinterm Berg. Giffeys Stellvertreter Klaus Lederer (Linke) räumte gar
       Giffeys jüngstes mietenpolitisches Rettungsangebot – eine Begrenzung bei
       Mieterhöhungen auf 30 Prozent des Haushaltseinkommens – öffentlich als
       bloße „Härtefallregelung“ ab, die kaum zum Einsatz kommen werde. Und in den
       Fraktionen von Grünen und Linken lächeln sie abschätzig über Giffeys
       Bündnis.
       
       Der Lack ist also ab. Fast genau ein halbes Jahr nach Amtsantritt als
       Regierende Bürgermeisterin und neun Monate nach ihrem Wahlsieg ist Giffey
       nicht mehr die Leuchtgestalt, die der SPD den lange für unmöglich
       gehaltenen erneuten Einzugs ins Rote Rathaus bescherte. Für sie steht nun
       an, was gewöhnlich vor einem solchen Sieg steht: die Tour durch die
       Kreisverbände, Unterstützung sichern an der Basis, inhaltliche Positionen
       entwickeln und verteidigen können.
       
       Schon während ihrer Zeit als Bundesfamilienministerin war gerätselt worden,
       wofür Giffey eigentlich inhaltlich steht. Im Wahlkampf im Sommer 2021 hatte
       sie diese Leerstellen mit Phrasen wie „SPD pur“ plus autofreundlicher
       Verkehrspolitik überdeckt.
       
       Auch beim Landesparteitag am Sonntag hat sie bei ihrer Bewerbungsrede für
       die Wiederwahl – Gegenkandidat*innen gab es nicht – Inhalte
       weitgehend ausgeklammert: kein Wort zum Wohnungsbündnis, zur
       Enteignungsdebatte, zum Klimaschutz. Der Applaus fiel denn auch mäßig aus,
       zumal die Parteitagsregie die Delegierten bereits zwei Stunden lang mit
       Formalia gequält hatte, statt – beim ersten echten Treffen seit zwei Jahren
       – Debatten früh anzusetzen.
       
       Das waren dann zu viele Worthülsen: Die Klatsche in Form des miesen
       Wahlergebnisses folgte, ohne dass es dafür Absprachen der innerparteilichen
       Gegner*innen bedurft hätte.
       
       Was nicht heißt, dass Giffeys Position derzeit ernsthaft in Gefahr wäre:
       Ihr Co-Landeschef Raed Saleh – der genauso schlecht abschnitt wie Giffey,
       was für ihn wiederum eher ein Erfolg ist – hat die wichtigsten Positionen
       in der Partei strategisch klug besetzt. Auch ein*e Gegenkandidat*in
       ist nicht in Sicht. Aber es war ein – vielleicht genau zur richtigen Zeit
       abgefeuerter – Warnschuss. Die Arbeitsteilung, dass Giffey glänzt und Saleh
       die Strippen zieht, reicht der Partei nicht mehr aus.
       
       Giffey muss mit dieser inhaltlichen Profilierung zudem schnell anfangen,
       hat sie doch auf dem Parteitag angekündigt, den Grünen die Innenstadt
       wieder streitig machen zu wollen. Mit Blick auf die Abstimmungen heißt das,
       dass sie sich dafür eher den Grünen annähern als von ihnen stärker
       abgrenzen müsste.
       
       Und so hat Giffeys Klatsche auch Folgen für die Koalition. Grüne und Linke
       dürften die Vorlagen vom SPD-Parteitag nutzen, um auf Kurskorrekturen in
       der Verkehrs- und Enteignungspolitik zu drängen mit dem Argument, dass
       Grüne, Linke und SPD mehr Übereinstimmungen in diesen Punkten haben, als im
       Koalitionsvertrag steht und als es der Regierenden lieb ist.
       
       Nun hat derzeit keiner der drei Partner Interesse an Neuwahlen: Die SPD
       würde wohl Stimmen verlieren, die Linke muss angesichts des
       bundespolitischen Debakels auf Sicherheit spielen, die Grünen würden wohl
       gewinnen, könnten aber ihre Koalitionspartner verlieren. Aber das Bündnis
       ist instabiler geworden, Konflikte werden schneller eskalieren. Und dabei
       hat die Legislatur erst begonnen.
       
       25 Jun 2022
       
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