URI: 
       # taz.de -- Femizide in Ägypten: „Sagst du Nein, blüht dir etwas“
       
       > Der Mord an einer Studentin in Ägypten landete als Video in den Sozialen
       > Medien. Nun ist eine längst überfällige Debatte über Femizide
       > ausgebrochen.
       
   IMG Bild: Die Familie der ermordeten Studentin Naira Aschraf beim Prozess gegen den mutmaßlichen Mörders Mohamed Adel
       
       Kairo taz | Es geschah am hellichten Tag vor den Toren der Universität
       Mansoura im ägyptischen Nildelta. Ein junger Mann geht auf die
       [1][Studentin Naira Aschraf] zu, sticht mit einem Messer auf sie ein und
       schneidet ihr am Ende die Kehle durch. Schockiert greifen beistehende
       Passanten ein, überwältigen den Mann bis zur Ankunft der Polizei. Naira
       stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus.
       
       Wie in vielen Fällen von Femiziden stammte der Mörder auch hier aus der
       Familie oder dem engeren Bekanntenkreis des Opfers. Es ist schwer,
       Statistiken beizukommen, wie viele Frauen in Ägypten in ihrem privaten
       Umfeld ermordet werden.
       
       In einem Bericht der „Edraak Stiftung für Entwicklung und Gerechtigkeit“
       über Gewalt gegen Frauen, der letzten Februar veröffentlicht wurde, werden
       214 Fälle ermordeter Frauen im Jahr 2021 innerhalb der Familien, durch
       einen Ehemann oder den ehemaligen Ehemann aufgelistet. 51 Frauen wurden
       außerhalb des Familienkreises ermordet, darunter 11 von Nachbarn.
       
       Auch im Fall Nairas kamen Täter und Opfer aus dem gleichen Dorf im
       Nildelta. Der Mörder hatte Naira seit Längerem gestalked, nachdem sie sich
       geweigert hatte, ihn zu heiraten. Sie blockierte ihn auf Facebook und gab
       eine Anzeige gegen ihn auf. Die landete, wie meist in diesen Fällen, bei
       der Polizei in einer Schublade. Die junge Frau blieb schutzlos, am
       vergangenen Montag bezahlte sie den ultimativen Preis.
       
       ## Der Mord an Nara landete als Video in Sozialen Medien
       
       Derartige Frauenmorde machen in Ägypten normalerweise nur kurz
       Schlagzeilen, dann geht das Land wieder zu Tagesordnung über. Die
       Gesellschaft tut derartige Fälle oft als eine Privatangelegenheit ab. Nur
       24 Stunden nach dem Mord an Naira wurden zwei weitere Frauenmorde
       berichtet. Zwei Frauen in zwei getrennten Fällen wurden in einem
       Familienstreit von ihrem Bruder erstochen. In einem der Fälle, weil der
       Bruder seine Schwester für zwei Scheidungen verantwortlich machte.
       
       Aber der Fall der Studentin Naira bekam von Anfang an eine größere
       Prominenz, auch [2][wegen der Öffentlichkeit], in der der Mord stattfand.
       Ein Handyvideo vom Ende des Angriffs und der Überwältigung des Täters
       machte auf den Sozialen Medien in Ägypten ebenso die Runde wie das Foto der
       21-jährigen Studentin, wie sie mit ihrer Blue Jeans und ihrem gelben Hemd
       auf dem dreckigen Gehweg in ihrer eigenen Blutlache liegt. Die Folge war
       eine breite Debatte, vor allem in den Sozialen Medien des Landes.
       
       „So lange die Beschwerden von jungen Frauen nicht ernst genommen werden und
       so lange diese Frauen als Troublemaker gesehen werden, die andere Mädchen
       anstiften, solange wird so etwas immer wieder passieren“, sagt die
       ägyptische Frauenrechtlerin Nehad Abo El Komsan in einem weitverbreiteten
       Instagram-Video.
       
       Die Nichttätigkeit er Polizei ist keine Ausnahme, sagt Shaimaa al-Tantawy,
       Leiterin der ägyptischen Frauenorganisation „Barah Aamen“, zu Deutsch
       „Sichere Räume“. Stalker würden oft als private Angelegenheit abgetan,
       erzählt sie der unabhängigen Nachrichtenplattform „Mada Masr“.
       
       ## Zustimmung von Frauen wird oft als nicht notwendig gesehen
       
       Die Frauengruppen wehren sich seit Jahren immer wieder gegen eine Kultur,
       in der die Zustimmung von Frauen oft als nicht notwendig angesehen wird.
       Vor zwei Jahren führte der Hit des ägyptischen Sängers Tamim Younis mit dem
       Refrain: „Wenn du Nein sagst, blüht dir etwas“, zu einer öffentlichen
       Kontroverse. Damals warnten Frauengruppen, dass der Song ein Aufruf zur
       Gewalt gegen Frauen sei. Younis nahm den Titel daraufhin zwar von seinem
       Youtube-Kanal, aber bis heute ist er immer wieder in Clubs, auf Nilbooten
       oder bei privaten Partys zu hören. Ein Titel, der auch der Mörder Nairas im
       Kopf gehabt haben könnte.
       
       Aber der Kampf der ägyptischen Frauengruppen geht noch weiter. Sie beklagen
       die Nichtbeachtung der Polizei, wenn Frauen Anzeige erstatten, und dass in
       den konservativen Teilen der Gesellschaft immer wieder die Opfer statt der
       Täter verantwortlich gemacht werden.
       
       Auch diesmal meldete sich ein prominenter Scheich der islamischen
       Al-Azhar-Universität zu Wort und machte Nairas Kleidung verantwortlich.
       „Wenn dir dein Leben etwas wert ist, dann gehe mit einem Abbaya-Umhang aus
       dem Haus statt in engen Jeans, während deine Haare an deinen Wangen
       baumeln. Warum? Weil ihnen das Wasser im Mund zusammenläuft und sie sonst
       nichts haben, und weil sie sie sonst schlachten werden“, kommentiert
       Scheich Mabrouk Attiya auf seinem Facebook-Account in einem Video,
       unterlegt mit dramatischer Musik.
       
       Auch dieses Video verbreitete sich in Windeseile auf den Sozialen Medien.
       Doch diesmal kassierten die konservativen Gewalt-gegen-Frauen-Apologeten
       einen Rückschlag. Der Scheich wurde gleich mehrmals angezeigt. Auch der
       staatliche Frauenrat erklärte, „dass der Scheich mit seinen Aussagen zur
       Gewalt und zum Mord an Frauen aufgerufen und sich damit strafbar gemacht“
       habe. Der besagte Scheich hat nun öffentlich erklärt, sich beurlauben zu
       lassen und nicht mehr in der Öffentlichkeit aufzutreten.
       
       ## „Gerechtigkeit für Naira“ ist über Tage der meist genutzte Hashtag
       
       Die Al-Azhar-Universität erließ eine Fatwa – eine rechtliche Leitlinie –,
       in der die Rechtfertigung eines Mordes an einer Frau aufgrund ihrer
       Kleidung streng verurteilt wird. Die Debatte um Frauenmorde in Ägypten geht
       indes weiter. Die 21-jährige getötete Studentin ist zur Ikone geworden.
       „Gerechtigkeit für Naira“ ist über Tage auf den Sozialen Medien in Ägypten
       der meistgenutzte Hashtag.
       
       Doch auch der Mörder dient anderen als Vorbild. Wenige Tage nach dem Tod
       Nairas in Ägypten wurde im benachbarten Jordanien die junge Studentin
       [3][Iman Ershid] mit fünf tödlichen Schüssen ermordet. Der Mörder hatte
       sein Opfer zuvor gewarnt. „Wenn du nicht mit mir sprichst, bringe ich dich
       genauso um, wie es der Typ in Ägypten getan hat“.
       
       27 Jun 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.egyptindependent.com/update-court-adjourns-trial-for-murderer-of-naira-ashraf-to-tuesday/
   DIR [2] https://twitter.com/ItsTITOwithAnI/status/1538981350472024065?s=20&t=ufoILSQK0waVQhzG7ZXUyA
   DIR [3] https://www.albawaba.com/news/jordan-killer-university-student-iman-ershid-shoots-himself-1482008
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Karim El-Gawhary
       
       ## TAGS
       
   DIR Ägypten
   DIR Schwerpunkt Femizide
   DIR Gewalt gegen Frauen
   DIR Mord
   DIR GNS
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Feminismus
   DIR Ägypten
   DIR Frauenhäuser
   DIR Schwerpunkt Femizide
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Syrische Flüchtlinge in Jordanien: Die vergessene Jugend
       
       130.000 Syrer leben im Nachbarland in Containern in der Wüste. Eine ganze
       Generation ist inzwischen in Flüchtlingslagern geboren und aufgewachsen.
       
   DIR Haushaltshilfen in Jordanien: Die Unsichtbaren
       
       Dienstmädchen in Jordanien werden oft ausgebeutet, das Haus dürfen sie
       nicht verlassen. Die Zahlen unnatürlicher Todesfälle häufen sich.
       
   DIR Gleichberechtigung in Jordanien: Der Kampf um Worte und Rechte
       
       Ein Wort reicht, um eine Massenschlägerei in Jordaniens Parlament
       auszulösen: „urduniat“ – Jordanierinnen. Wie Frauen um Gleichberechtigung
       kämpfen.
       
   DIR Ägyptologische Ausstellung in Hannover: Ein Dämon für alle Fälle
       
       Bes war in Ägypten einst zuständig für Sex und Bier und Tanzmusik: Ein
       Leben ohne den Zusatzgott war fast unvorstellbar. Und auch nicht
       wünschenswert.
       
   DIR Nach Femizid in Nordhessen: Wo bleibt der Aufschrei?
       
       Jüngst tötete ein 58-Jähriger seine Ex-Partnerin in einem Supermarkt. Kein
       Einzelfall, was zeigt: Es muss mehr über Femizide geredet werden.
       
   DIR Geplante Studie: Ein Frauenmord ist ein Femizid
       
       Eine groß angelegte Studie zu Femiziden ist überfällig. Es ist nötig, die
       Hintergründe von männlicher Macht und Lebensumständen zu erforschen.