URI: 
       # taz.de -- Neues Album von Frau Kraushaar: Casiopop-Rollenprosa
       
       > Wie nutzt der Kapitalismus die Verfasstheit jedes Einzelnen? Das
       > interessiert die Künstlerin Frau Kraushaar auf ihrem neuen Album „Bella
       > Utopia“.
       
   IMG Bild: Sie schaut durch eine ganz besondere Brille aufmerksam auf die Welt
       
       Die Gegend, welche die Künstlerin und Musikerin Frau Kraushaar auf ihrem
       neuen, dritten Album als „Bella Utopia“ bezeichnet, könnte für sie in der
       Nähe von Avignon liegen. Denn als die in Regensburg aufgewachsene
       Wahlhamburgerin vor einiger Zeit im Urlaub in der südfranzösischen Provence
       spazieren ging, „stachen mir die Felder und Wiesen dort endlos schön ins
       Auge“, erklärt sie im Interview mit der taz. „Die Tiere, die dort pickten,
       grasten und entspannt längs gingen, Hühner, Schafe, auch Pferde, und selbst
       die Bienen in der Luft machten den Eindruck, als wanderten sie aus dem
       gleichen Grund herum wie ich: Nämlich, um in einer freundlich
       überwältigenden Umgebung der Zeit beim Vergehen zuzuschauen.“
       
       In dieser malerischen Umgebung begann Kraushaar mit Field Recordings zu
       experimentieren, welche jetzt den musikalischen Grundstock für ihr „Bella
       Utopia“ betiteltes Album bilden. Wieder zurück in Hamburg, besingt die
       46-Jährige, die als Silvia Berger geboren wurde, im Titelstück der vor
       allem mithilfe eines Casio-Synthesizers entworfenen minimalistischen Musik
       ihre Eindrücke: „Bezaubernd /schön / sagenhaft / einzigartig / herrlich /
       unübertroffen.“
       
       Nun geht es Frau Kraushaar bei dieser Aufzählung aber nicht nur darum, von
       einer Landschaft zu schwärmen, als steige sie zur Inspiration gerade wie
       Petrarca auf den Mont Ventoux. Ihr Vorhaben besteht vielmehr darin, von
       der Utopie aus zu betrachten, wie sich die bisher durchsetzungsfähigste
       Wirtschaftsordnung die Verfasstheit jedes Einzelnen zunutze macht: „Der
       Kapitalismus lebt davon, uns zu Aggressionen zu verleiten und in
       Depressionen zu treiben. Indem ich mir darüber klar werde, kann ich es
       besser mit ihm aufnehmen.“
       
       ## Schweine, Frösche, Obsthändler
       
       Wie dieses Aufnehmen klingen kann, zeigt unter anderem die erste Single
       „Lamentierendes Schwein“. Zu einem funky Blaskapellenrhythmus beschreibt
       Kraushaar mit Humor und schwebender Leichtigkeit über einer heiteren
       Casio-Tastentonfolge ihren Gemütszustand: „Ich liege in Trümmern / Die Welt
       liegt neben mir / Ich bin so ’ne arme Sau / Und spiele schlecht Klavier.“
       
       Doch wenn sie von den Trümmern aus in ihr Herz schaut, kommt bei Frau
       Kraushaar Entdeckerfreude über ihre „Gefühle“ auf. Dafür nimmt sie sich
       viel Zeit, während der sie Silben dehnt wie eine aufgedrehte Billie
       Holiday, um dann a-cappella festzustellen: „Ich habe Gefüh-hüh-hüh-le / Die
       sind einfach da … Was ich fühle, ist wunderschön.“
       
       Nach einigen sehr ansprechenden Wortspielen, Dialekteinsprengseln und
       charmantesten Noveltyserenaden, wie „Eine kleine Froschmusik“, leiht
       Kraushaar ihr Ohr dann für ein Lied einem Obstverkäufer. Der ist durch und
       durch unsympathisch, eignet sich dadurch aber für Frau Kraushaar bestens
       als Materiallieferant für eine Fallstudie.
       
       Inspiration für dieses wundervolle Lied entnahm sie einer
       Zwischenüberschrift von Heiner Müllers Theaterstück „Der Mann im
       Fahrstuhl“. Bei Kraushaar tritt dieser Zeitgenosse als Obsthändler auf. Als
       jemand, der meint, seine Kundin komplett durchschauen zu können, ohne sie
       dafür auch nur das geringste bisschen kennen zu müssen.
       
       Er kann Kraushaar zwar genau attestieren, wo ihr Problem liegt, merkt aber
       nicht, wie er sich tatsächlich um Kopf und Kragen redet: „Denk an mich,
       wenn du deine Zeit verschwendest / Du hast einen Teil von dir vergessen /
       Morgen wird er dir einfallen … Hey Baby, Ich finde dich gut / Ich hab dich
       beobachtet, gestern / Wie du Orangen gekauft hast / Aber jeder weiß / du
       kannst Orangen nicht ausstehen / Sei auf der Hut / Du bist nicht allein /
       Denn du kannst niemals wissen, was der Orangenverkäufer von dir will /Du
       hast die Orangen zu Hause in die Schublade gesteckt …Denn Baby, du scheinst
       mir nicht hell genug / Fünf Minuten vor der Zeit ist die wahre
       Pünktlichkeit“.
       
       ## Wie ein mutiger Freigeist
       
       Kraushaar gelingt es, einem männlichen Mitmenschen während eines wenige
       Minuten dauernden Stücks Rollenprosa alles in den Mund zu legen, was es
       braucht, um zu verstehen, was „Mansplaining“ genau bedeutet.
       
       Mit Liedern und Performances demonstriert die Hanseatin seit einigen Jahren
       nichts Geringeres, als dass Popmusik nach wie vor eine grundsätzlich
       geeignete Möglichkeit bietet, die Gegenwart mit ihren zauberhaften und
       zugleich mit ihren unsympathischen Anteilen zu fassen zu kriegen.
       
       Den jüngsten Beweis dafür liefert Frau Kraushaars mühelos aufmüpfiges Album
       „Bella Utopia“, welches wie eine brillante, freundliche Umsetzung von
       Jonathan Meeses Parole von der „Diktatur der Kunst“ wirkt. Oder wie
       scheppernde Indie-Musik, die den Geist der frühesten Veröffentlichungen auf
       den [1][Labels des Impresarios Alfred Hilsberg], Whatsofunnyabout und
       ZickZack, atmet. Frau Kraushaars Musik klingt entsprechend, als hätte sie
       sich ein fröhlicher, mutiger Freigeist ausgedacht. Woher ihr Mut und ihre
       Fröhlichkeit kommt: „Ich bin keine Musikerin, sondern eine Künstlerin, die
       Musik macht“, antwortet Kraushaar lakonisch.
       
       5 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Biografie-ueber-Alfred-Hilsberg/!5291759
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kristof Schreuf
       
       ## TAGS
       
   DIR Pop
   DIR Performance
   DIR Neues Album
   DIR Hamburg
   DIR Musik
   DIR Neues Album
   DIR Musik
   DIR Neues Album
   DIR Global Pop
   DIR HipHop
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Einjähriger Todestag von Kristof Schreuf: Etwas in die Welt werfen
       
       Weggefährten erinnern sich an den Autor und Musiker Kristof Schreuf. Das
       Werk seiner Band Kolossale Jugend wird neu veröffentlicht.
       
   DIR Leipziger Sängerin Karo Lynn: Runter von der Couch
       
       Zweifel gegen Düsternis: Die Leipziger Musikerin Karo Lynn präsentiert die
       Popsongs ihres neuen Albums „A Line in My Skin“ bei einer Tour.
       
   DIR Neues Album von den Viagra Boys: Lieber mal ein Affe werden?
       
       Auf „Cave World“ arbeitet sich die schwedische Band Viagra Boys an der
       Querdenkerszene ab. Endlich kann man mal befreit lachen über all den
       Irrsinn!
       
   DIR Katalanische Sängerin Marina Herlop: Ineinander fallende Fantasiegebilde
       
       In ihrem dritten Album „Pripyat“ wagt sich die katalanische Musikerin
       Marina Herlop auch in die ihr bislang fremde Klangwelt der Musik-Software.
       
   DIR Sängerin Moonchild Sanelly aus Südafrika: Let’s talk about sex
       
       Moonchild Sanelly ist Teil der hippen Musikszene Südafrikas. Ihr zweites
       Album „Phases“ versteht sie als feministisches, sexpositives Manifest.
       
   DIR Neues Album von Rapperin Ebow: Architektin des HipHop
       
       Die bayerisch-kurdische Rapperin Ebow flext mit Köpfchen. Auf ihrem neuen
       Album „Canê“ bekommt die eigene Community aber auch mal Saures.