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       # taz.de -- Schriftsteller Jürgen Becker gestorben: Mit jedem Satz eine neue Zeit
       
       > An Jürgen Becker orientieren sich derzeit viele bekannte jüngere Lyriker.
       > Zu seinem 90. Geburtstag erschienen zuletzt die „Gesammelten Gedichte“.
       
   IMG Bild: Fluxus, Kriegsjugend, Gruppe 47: Jürgen Becker wurde am 10. Juli 90 Jahre alt
       
       Wie der Suhrkamp Verlag mitteilt, ist der Schriftsteller Jürgen Becker am
       7. November im Alter von 92 Jahren in Köln gestorben. Sein Schaffen,
       zunächst von der bildenden Kunst beeinflusst und bis zuletzt von jüngeren
       Autorinnen und Autoren sorgfältig wahrgenommen, reicht bis ins Jahr 1960
       zurück. 2014 bekam er den Büchnerpreis. Aus Anlass seines Todes hier eine
       umfangreiche Besprechung der „Gesammelten Gedichte“ Jürgen Beckers, die so
       etwas wie die Summe seines Schaffens bilden, die zuerst am 11.7.2022 auf
       taz.de erschien. 
       
       Jürgen Becker wurde im Lauf seines Werks immer jünger. Einige der
       interessantesten neuen Lyriker beziehen sich ausdrücklich auf ihn. Das
       unterscheidet den am 10. Juli 1932 geborenen Schriftsteller von den meisten
       seiner Generationskollegen. Becker scheint unmittelbar anschlussfähig an
       die Gegenwart zu sein.
       
       Vielleicht hat das etwas damit zu tun, dass er sein erstes Buch 1960
       zusammen mit dem Happening- und Fluxusaktivisten Wolf Vostell bei einer
       Kölner Galerie veröffentlichte. Es hieß „Phasen“ und entsprach der damals
       aufbrechenden Suche nach neuen Ausdrucksformen. Becker fand in den
       Installationen der Bildenden Kunst, in der Abkehr von einem überkommenen
       bürgerlichen Kunstbegriff die Maßstäbe, um sich auszudrücken. Am ehesten
       entsprachen ihm die Vorstellungen der „Fluxus“-Bewegung (Fluss, fließen).
       Für einen Schriftsteller, der in die frühe Bundesrepublik hineinwuchs, war
       das ziemlich ungewöhnlich.
       
       Dass sein Verlag zu seinem 90. Geburtstag „Gesammelte Gedichte“ von ihm
       vorlegt, ist naheliegend: Gedichte stehen im Zentrum seines Werks. Jürgen
       Becker hat vergleichsweise spät begonnen, Prosa zu schreiben. Und doch ist
       die Sache komplizierter.
       
       Als er 1971 seinen ersten nominellen Gedichtband „Schnee“ herausbrachte,
       war er schon ein renommierter Autor, und diese langen Gedichte knüpften
       unverkennbar an seine Bücher aus den 60er Jahren an, die die Titel „Felder“
       und „Ränder“ trugen und programmatisch mit keiner Gattungsbezeichnung
       versehen waren. Das „Fragment aus Rom“, das „Schnee“ eröffnet, hatte beim
       Erstdruck noch die Überschrift „Momente – Ränder – Erzähltes – Zitate“ und
       verweist damit auf das Prinzip der Collage, der visuellen Techniken, mit
       denen Becker begonnen hatte.
       
       „Schnee“ bezeichnet dennoch einen Neuanfang. 1966 war er bei der
       repräsentativen Auslandstagung der Gruppe 47 in Princeton von den Kritikern
       noch entgeistert verrissen worden – zu postmodern, zu uneigentlich
       erschien ihnen seine Sprache, die sich auf keinen abgestandenen
       „Realismus“-Begriff mehr einließ und lustvoll stromernd die Wahrnehmung
       einer Stadt abbildeten, eine Art Bewusstseinstreiben. Ein Jahr später
       jedoch, auf der letzten Tagung der Gruppe 47, wurde ihm mit ähnlich
       gelagerten Texten bereits der begehrte Preis der Gruppe zugesprochen, und
       man konnte das so lesen: Die Gruppe 47 ging, und Jürgen Becker kam.
       
       ## 70er Jahre als Inkubationszeit
       
       „Schnee“ markiert den Beginn dessen, was Becker selbst im Klappentext zu
       seinem Gedichtband „Das Ende der Landschaftsmalerei“ von 1974 seine Phase
       der „Entflechtung“ nannte. Er trennte nun die in seinen ersten Büchern noch
       zusammenschießenden visuellen, akustischen und szenischen Passagen, und das
       Ergebnis davon waren diese Gedichte.
       
       Die 70er Jahre sind für ihn dabei so etwas wie eine Inkubationszeit. Er
       setzt sich mit dem „multiplen Ich“ auseinander, mit dem seine
       Schreibbewegungen eingesetzt hatten, er zeigt das Material vor, aus denen
       seine Gedichte entstehen: das Alltägliche und Zufällige. Charakteristisch
       für Becker ist, dass die Schrift immer in Zusammenhang mit sinnlichen
       Reizen steht. Seine Gedichte haben visuelle oder akustische Auslöser, und
       in dem jeweiligen Augenblick konstituiert sich das konkrete schreibende Ich
       neu.
       
       „Das Ende der Landschaftsmalerei“ setzt ein mit dem „Berliner
       Programm-Gedicht; 1971“: eine an die Langgedichte der amerikanischen
       Pop-Art anschließende Wahrnehmungsassoziation, die von der Gegenwart und
       den Ruinen Westberlins ausgeht.
       
       ## Büchnerpreis 2014
       
       Es gibt keinen roten Faden, Widersprüchliches steht scheinbar unverbunden
       nebeneinander. Das aus der Tradition der Naturlyrik stammende klassische
       Gegenüber von Ich und Welt wird aufgehoben in einer Gleichzeitigkeit
       unterschiedlicher neuer „Landschaften“, die aus Geschichte, Architektur,
       Stadtplanung und Straßengeräuschen bestehen.
       
       Mit der Zeit drängen sich aber auch Kindheitserinnerungen dazwischen, die
       Zerstörungen aus Kriegs- und Nachkriegszeit, das Gespür für die
       „Wahrnehmung der Manipulationen, die sich mit der Sprache anstellen
       lassen“. So drückte es Jürgen Becker in seiner Dankesrede [1][zum
       Büchnerpreis 2014] aus.
       
       Der Titel des Gedichtbands „Erzähl mir nichts vom Krieg“ von 1977 zeugt
       davon: Aus den Bewusstseinsprotokollen der unablässig zerstiebenden
       Gegenwart kristallisieren sich Erinnerungsblöcke heraus. Zunehmend tauchen
       autobiografische Bruchstücke in Beckers Gedichten auf und treten in neue
       ästhetische Konstellationen.
       
       ## Man schreibt nie allein
       
       „So allein man sich mit seinen Wörtern beim Schreiben vorkommt, man
       schreibt niemals allein, irgendeine Art von Wirklichkeit macht immer mit“,
       sagte Becker 2014. Seine Wirklichkeit besteht unter anderem aus
       zeitgenössischen Exkursionen in die USA, „In der Nähe von Andy Warhol“,
       wie ein kurzes Gedicht lautet, aber gleichzeitig auch aus Kindheits- und
       Jugendszenen.
       
       Dass der Rheinländer Becker 1939 im Alter von sieben Jahren mit seiner
       Familie von Köln nach Erfurt umzog, wo er bis 1947 blieb, bildet die
       Grundlage für die Thüringer Motive in seinem Werk, die in den Bänden „Das
       Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft“ 1988 (das rein biografisch
       und nicht zeitpolitisch zu lesen ist) und „Foxtrott im Erfurter Stadion“
       von 1993 zentral werden. Die Veränderungen seines Schreibens, die sich
       nicht abrupt, sondern organisch ergaben, entsprachen der Erkenntnis, „dass
       der fortwährende Bruch mit der Konvention nur zu einer neuen Konvention
       führt, dass nach aller Destruktion die Leere beginnt. Und mein Schreiben
       suchte einen Weg, der wieder ins Offene führte.“
       
       ## Eingeholt von der Zeit
       
       Erst heute scheint Jürgen Becker von der Zeit eingeholt worden zu sein. Für
       einige der wichtigsten jüngeren Lyriker ist er unverkennbar ein
       Orientierungspunkt. Die Laudatio zum Büchnerpreis [2][für ihn hielt Lutz
       Seiler,] das Nachwort zu den „Gesammelten Gedichten“ [3][schrieb jetzt
       Marion Poschmann]. Beckers Form der visuellen Wahrnehmung reicherte sich im
       Lauf der Zeit durch die technisch-digitalen Möglichkeiten an, die er
       bereits in den 60er Jahren im Blickfeld hatte. In seinen Gedichten wird
       mitreflektiert, wie unzuverlässig die unmittelbare Wahrnehmung ist und dass
       man sich besser nicht auf sie allein verlassen sollte. Dieser Lyriker weiß
       um die riesigen Räume ohne Wörter
       
       Den Vorsatz, die Widersprüche und Gleichzeitigkeiten im Kopf zum Vorschein
       zu bringen, befolgt Becker bis heute. Im Gedichtband „Dorfrand mit
       Tankstelle“ von 2007 heißt es einmal: „Mit jedem Satz / beginnt eine andere
       Zeit“, und in seinen „Journalgedichten“, die er mit den Jahren
       vorangetrieben hat, wird das auf den Punkt gebracht.
       
       Zu seinem 90. Geburtstag erscheint der neue Band „Die Rückkehr der
       Gewohnheiten“, der gleichzeitig auch schon in die „Gesammelten Gedichte“
       mitaufgenommen wurde – ein abgründig-ironischer Blick auf Zeitgeschichte
       und Lebensalter. Hier ist die Phase der „Entflechtung“ in etwas Anderes
       übergegangen, die Gedichte spielen mit den Erfahrungen und den Materialien.
       
       Immer wieder ist es Jürgen Becker gelungen, sich „vom Schweigen zu
       trennen“, wie er es selbst sagt. Und es ist eine große Kunst – dieser
       Dichter hat es konsequent bis in die Gegenwart fortgeführt –, nicht
       „sprachlos gemacht zu sein von den Verstörungen, die der Geräuschfilm der
       Realität im Kopf hinterlässt“.
       
       11 Jul 2022
       
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