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       # taz.de -- Hologramme sind der neue Trend: Digitale Doubles
       
       > Politiker und andere Prominente lassen sich als dreidimensionale
       > Hologramme auf Bühnen projizieren. Was macht das mit dem analogen
       > Zuschauer?
       
   IMG Bild: Nein, das ist nicht der wahre Jean-Luc Mélenchon, sondern nur sein Hologramm
       
       Bei der diesjährigen französischen Präsidentschaftswahl wartete die linke
       Partei „La France insoumise“ mit einem besonderen technischen Spektakel
       auf: Ein gelb-türkiser Spiralnebel erleuchtete die Bühne und plötzlich
       stand da der Spitzenkandidat Jean-Luc Mélenchon auf der Bühne. Aber nicht
       der echte, sondern ein Double. Genauer gesagt: ein Hologramm.
       
       Während der leibhaftige Mélenchon in Lille redete, wurden die Live-Bilder
       an [1][11 anderen Wahlkampforten in Frankreich] auf einen Bildschirm
       projiziert, wo sie von einem transparenten Film in einem Neigungswinkel von
       45 Grad reflektiert wurden. So entstand die Illusion einer
       dreidimensionalen Figur, die das Publikum glauben ließen, da stünde der
       echte Mélenchon. Mit der Technik, die bereits im französischen
       [2][Präsidentschaftswahlkampf 2017] zum Einsatz kam, konnte sich der
       Spitzenkandidat von „La France insoumise“ quasi vervielfältigen und
       simultan auf zwölf Bühnen stehen. Was im physischen Raum nicht möglich ist,
       wird im hybriden digitalen Raum zur Realität: Multilokalität.
       
       Jean-Luc Mélenchon ist nicht der einzige Politiker, der sich digital
       verdoppeln ließ. So erschien kürzlich der ukrainische Präsident Wolodimir
       Selenski bei Tech-Konferenzen als Hologramm. Der indische Premierminister
       Narendra Modi und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan traten vor
       ihren Wählern ebenfalls als 3D-Figur auf (letzterer ließ sich, recht
       unbescheiden, auf das überdimensionierte Format von drei Metern Körperlänge
       vergrößern).
       
       Und auch die Queen präsentierte sich bei den Feierlichkeiten zu ihrem
       [3][70. Thronjubiläum als Hologramm]: Aus der goldenen Kutsche winkte die
       junge Königin aus dem Jahr 1952. Dass die Menge einem Hologramm zujubelte,
       das ungefähr so authentisch wirkte wie die 3D-Sammelkarten aus dem
       Souvenirshop, fanden einige Beobachter irritierend – als würde da eine
       Retro-Show aus den 50er Jahren ablaufen. War das echt? Fake? Oder gar eine
       Simulation?
       
       ## Original oder Kopie?
       
       Der französische Philosoph Jean Baudrillard meinte, dass wir in einer
       Hyperrealität lebten, in der sich das Original von der Kopie schon gar
       nicht mehr unterscheiden ließe. Und der Medientheoretiker Paul Virilio
       sprach im selben postmodernen Fahrwasser von einer „Ästhetik des
       Verschwindens“: Durch die immer höheren Übertragungsgeschwindigkeiten
       elektronischer Medien löse sich die „Präsenz des Objekts in Echtzeit“ auf,
       trete die Virtualität an die Stelle der Aktualität.
       
       Gewiss, auch klassische Medien wie das Fernsehen operieren mit der
       räumlichen Illusion, dass man direkt vor dem Tisch des Nachrichtensprechers
       sitzt. Trotzdem blendet man diesen Effekt aus. Nur ein Kind würde wohl auf
       die Idee kommen, hinter dem Flimmerkasten nachzuschauen, ob da wirklich
       jemand ist. Doch gegenüber zweidimensionalen Fernsehgesichtern besitzen
       Hologramme und Avatare eine gewisse Plastizität. Wer den virtuellen
       Mélenchon gesehen hat, wird später nicht sagen, dass er auf einer
       Public-Viewing-Veranstaltung gewesen sei, genauso wie die Besucher der
       Abba-Hologramm-Show nicht berichten werden, dass sie eigentlich nur einen
       Film aus der Konserve gesehen hätten.
       
       Digitalität erzeugt – und darin besteht ihre immanente Paradoxie – trotz
       ihrer Körperlosigkeit eine neue Körperlichkeit, die in gewisser Weise über
       unsere physische Daseinsform hinausgeht. So wurden verstorbene Künstler wie
       der Rapper Tupac oder die Sängerin Amy Winehouse als Hologramme auf Bühnen
       projiziert, was eine ethische [4][Debatte darüber] auslöste, ob man
       Menschen nach ihrem Ableben digital reanimieren darf.
       
       Es ist ja schon ein wenig gruselig, wenn da ein Toter auf der Bühne steht,
       vor allem, wenn dies als Live-Performance inszeniert wird. Andererseits
       können digitale Revivals auch eine Form der Trauerbewältigung sein. So hat
       in Südkorea eine Mutter ihre verstorbene Tochter in der virtuellen Realität
       als Avatar „wiedergetroffen“. Es sind rührende Szenen, wie die Mutter mit
       den Datenhandschuhen über die Wangen des Mädchens streicht und mit ihm
       Geburtstag feiert. Durch die Immersion entsteht der Eindruck, dass man
       diesen – fiktiven – Moment jetzt gerade mit seinem Körper erlebt. Was die
       Frage aufwirft, ob durch die Virtualisierung unserer Lebenswelten auch die
       Wirklichkeit zur Fiktion gerät.
       
       ## Skurrile Beziehungen
       
       In Japan hat vor ein paar Jahren ein Mann das Hologramm der virtuellen
       Sängerin Hatsune Miku geheiratet. Das Cyberwesen „lebt“ seitdem als
       Hologramm in einem Glaszylinder, einer sogenannten „Gatebox“. Der 1300
       Dollar teure Projektor von der Größe einer Tischlampe ist so programmiert,
       dass er mithilfe von Sensoren die Anwesenheit des Ehemanns erkennt. Wenn
       der Mann von der Arbeit nach Hause kommt, schaltet die Cyberfrau das Licht
       ein, morgens weckt sie ihn. Fiktosexualität nennt man das Phänomen, wenn
       Menschen fiktive Charaktere lieben. Wer, wie viele Menschen in Japan, dem
       Animismus anhängt und glaubt, dass Gegenstände wie Steine belebt sind,
       braucht nicht viel Fantasie, um sich digitale Entitäten als lebendige
       Figuren vorzustellen.
       
       Die skurrile Beziehung sagt viel aus über die Einsamkeit in einer kalten
       Digitalmoderne (die ja nicht nur in Japan ein Problem ist), in der sich
       Menschen immer häufiger über Bildschirme begegnen. In einer Welt des
       „Social Distancing“, in der Kontaktlosigkeit das Gebot der Stunde ist
       (kontaktloses Bezahlen, kontaktloser Check-in, kontaktlose Lieferung), und
       der algorithmisch vorgespurte öffentliche Raum von immer mehr Automaten
       bevölkert ist, kommt man sich auch als sehr analoger Mensch zuweilen wie
       ein Hologramm vor: transparent, gläsern, unnahbar und seltsam
       zweidimensional. Als wäre man bloß die Abziehfolie seiner Selbst, ein
       Profilbild mit zwei Beinen, das laufend gescannt wird.
       
       Nach Mélenchons „Multimeeting“ fanden sich auf Twitter einige sarkastische
       Kommentare, wonach der Linkspopulist als Präsident sein Hologramm zum
       Premierminister ernennen oder 2044 als holografisches Abbild in den
       Elysée-Palast einziehen könnte. Das wäre die perfekte Verdopplung der
       Wirklichkeit. Bis dahin müsste man nur noch klären, ob man die 2017er- oder
       die 2022er-Version von Mélenchon verwendet.
       
       7 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.nicematin.com/politique/meeting-de-jean-luc-melenchon-en-simultane-dans-12-villes-comment-fonctionnent-ses-apparitions-en-hologramme-758338
   DIR [2] https://www.pourlascience.fr/sd/physique/le-fantome-du-candidat-9574.php
   DIR [3] https://news.sky.com/story/platinum-jubilee-the-queen-appears-in-hologram-in-gold-state-coach-as-street-pageant-takes-place-in-london-12628157
   DIR [4] https://www.theguardian.com/tv-and-radio/2019/jun/01/pop-holograms-miley-cyrus-black-mirror-identity-crisis
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Adrian Lobe
       
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