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       # taz.de -- Politische Situation in Nigeria: Der führungslose Kontinent
       
       > Angesichts der globalen Krisen sind selbst Afrikas Mächtigste machtlos,
       > Hoffnungsträger gibt es keine mehr. Nigerias Stagnation ist ein
       > Warnsignal.
       
   IMG Bild: Junge Bevölkerung: Fußballfans bei einem Match in Lagos
       
       Am Abend des 5. Juli meldete sich in Nigeria [1][Boko Haram] eindrucksvoll
       zurück. Die islamistische Terrorgruppe, die Nigerias Präsident Muhammadu
       Buhari schon mehrfach für endgültig besiegt erklärt hat, stürmte mit
       Sprengstoff und Sturmgewehren das Gefängnis Kuje außerhalb der Hauptstadt
       Abuja und befreite 879 der 994 Insassen. Augenzeugen zufolge gaben die
       Angreifer jedem Häftling umgerechnet 5 Euro, um nach Hause zu fahren. Rund
       die Hälfte wurde wieder eingefangen, aber vom Rest, darunter allen in Kuje
       einsitzenden Boko-Haram-Kämpfern, fehlt jede Spur.
       
       Was tat Nigerias Präsident? Er griff zu Twitter. Seine Nachricht vom 6.
       Juli ist legendär geworden. „Traurig über den Angriff auf die Haftanstalt
       Kuje. Ich bin von unseren Aufklärungsdiensten enttäuscht. Wie können
       Terroristen sich organisieren, über Waffen verfügen, eine
       Sicherheitseinrichtung angreifen und damit davonkommen? Ich erwarte einen
       umfassenden Bericht über diesen schockierenden Vorfall.“
       
       Der Staatschef als hilfloser Beobachter – das schockierte sein Land. Als
       junger Offizier war Buhari einmal Militärdiktator gewesen, berüchtigt für
       seine zupackende Art. 2015 ließ er sich im Ruhestand zum Präsidenten
       wählen, um dem Terror der Islamisten mit militärischen Mitteln ein Ende zu
       setzen. Und heute?
       
       Nigerias Twitter explodierte in Häme. Ein Kommentar: „Der
       Oberkommandierende der nigerianischen Streitkräfte zu Land, Wasser und in
       der Luft fragt uns auf Twitter, wie so ein Angriff passieren konnte.“ Ein
       anderer: „In der Ukraine wird ein Komödiant zum Kriegsgeneral, in Nigeria
       wird ein Kriegsgeneral zum Komödianten.“
       
       ## Afrikas größter Ölförderer
       
       Nigeria müsste eigentlich Afrikas kommende Großmacht sein. Mit rund 217
       Millionen Einwohnern – genau weiß das niemand – stellt es über ein Sechstel
       der Bevölkerung des Kontinents; bis 2050 dürften es Demografen zufolge 400
       Millionen sein. Nach UN-Berechnungen werden im Zeitraum 2020 bis 2025 39,5
       Millionen Kinder in Nigeria geboren werden, fast doppelt so viele wie in
       allen EU-Staaten zusammen.
       
       Sie wachsen auf in einem Land, in dem Perspektiven schwinden. Nicht nur
       bewaffnete Islamisten machen das Leben von Millionen zur Hölle. Im Juni
       warnte das Council of Foreign Relations in den USA: „Nigeria erlebt einen
       dramatischen Anstieg von Alltagsgewalt, darunter Entführungen, religiös
       motivierte Angriffe, Überfälle durch bewaffnete Banden und
       Polizeibrutalität. Die Behörden haben das Chaos nicht im Griff.“
       
       Dass Nigeria Afrikas größter Ölförderer bleibt, ändert daran nichts. Im
       Gegenteil, die einseitige Fixierung auf Öl- und Gasexporte blockiert seit
       einem halben Jahrhundert die Entwicklung, Korruption und Spekulation
       verdrängen Investition und Produktion. Immenser Reichtum schottet sich von
       schreiender Armut ab. Seit Buharis Amtsantritt schrumpft die Wirtschaft,
       inzwischen galoppiert die Inflation, Ökonomen warnen vor [2][Hungerkrisen]
       in diesem Sommer.
       
       Für die ökonomische Entwicklung kann Buhari wenig. Sein Amtsantritt 2015
       fiel zusammen mit dem Verfall der globalen Rohstoffpreise. Kaum erholte
       sich das Land etwas, kam Corona. Die globalen Reise- und
       Handelseinschränkungen infolge der Pandemie trafen in Nigeria auf eine
       bereits stagnierende Volkswirtschaft. Vielerorts löste das die letzten
       Bande gesellschaftlicher Solidarität.
       
       ## Junge Kräfte haben nichts zu melden
       
       In dieser Situation wird im Februar 2023 in Nigeria ein neuer Präsident
       gewählt. Buhari tritt nicht mehr an. Frischer Wind ist nicht in Sicht. Zwei
       Politveteranen buhlen um die Nachfolge. Buharis Partei APC (All
       Progressives Congress) schickt den 70-jährigen ehemaligen Gouverneur der
       Megastadt Lagos, Bola Tinubu, ins Rennen. Vor 20 Jahren galt er noch als
       Modernisierer, erscheint aber heute kraftlos. Die wichtigste
       Oppositionskraft PDP (People’s Democratic Party), die Nigeria vor Buharis
       Wahlsieg 2015 regiert hatte, bietet zum wiederholten Male den 75-jährigen
       Atiku Abubakar auf. Der politische Stillstand ist perfekt.
       
       Junge Kräfte haben in [3][Nigeria] nichts zu melden. Nur 7,5 Prozent der
       Bevölkerung sind älter als 55 Jahre, aber diese Altersgruppe monopolisiert
       fast alle Machtposten. Im nach dem Muster der USA errichteten
       Zweiparteiensystem dominieren korrupte Gewaltapparate auf der Ebene des
       Zentralstaats und der der 36 Bundesstaaten. Auch 2023 dürften neue
       Parteien, die aus der jüngeren Bevölkerungsmehrheit kommen, keine Chance
       haben. Schon bei den letzten Wahlen gingen kaum mehr als ein Drittel der
       Wahlberechtigten zu den Urnen; dieser Anteil dürfte sinken.
       
       Nigeria ist ein besonders verknöchertes Beispiel politischer Stagnation,
       aber die ist in Afrika ein allgemeines Problem. Es gibt momentan keine
       einzige Reformhoffnung mit landesübergreifender Ausstrahlung mehr.
       Südafrika, Nigerias Dauerrivale um die Führung des Kontinents, ist in den
       Dauerskandalen seines regierenden ANC gefangen. Noch krasser zeigt sich das
       in Afrikas dritter potenzieller Großmacht Äthiopien, deren Regierungschef
       Abiy Ahmed 2019 als Friedensnobelpreisträger gefeiert wurde und danach als
       Warlord sein Land in den Dauerbürgerkrieg führte. In vielen Ländern sind in
       den vergangenen Jahren neue Staatschefs mit hehren Ansprüchen an die Macht
       gekommen, aber kein einziger hat seine Ziele auch nur ansatzweise erreicht.
       
       Afrika ist ein führungsloser Kontinent geworden. Die Coronapandemie und die
       aktuellen globalen ökonomischen Verwerfungen haben offenbart, wie
       ohnmächtig Afrikas Mächtigste sind. Was nützen Bemühungen um gute
       Regierungsführung, korrekte Wahlen und Einhaltung hoher rechtsstaatlicher
       Standards, wenn globale Krisen, auf die man keinen Einfluss hat, alles
       wieder zum Einsturz bringen? Im afrikanischen politischen Diskurs ist eine
       tiefe Desillusionierung gegenüber der Welt spürbar. Wohin sie führt, könnte
       sich im kommenden Jahr in Nigeria auf schonungslose Weise offenbaren.
       
       12 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Dominic Johnson
       
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