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       # taz.de -- Das Verbrechen vergessen: Demenzkranker bleibt eingesperrt
       
       > Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass ein Demenzkranker gesichert
       > untergebracht bleiben muss. Die Revision seines Anwalts ist damit
       > gescheitert.
       
   IMG Bild: Auch beim Spielen können Lücken im Kurzzeitgedächtnis stören
       
       Kiel taz | Ein Pflegeheimbewohner, der eine ebenfalls [1][pflegebedürftige
       Frau gewürgt und verletzt hatte], muss weiter in der forensischen Klinik
       bleiben: Sein Anwalt scheiterte mit der Revision des Falles vor dem
       Bundesgerichtshof (BGH). Er wollte damit die grundlegende Frage klären, ob
       ein Gericht über einen Menschen urteilen darf, der gar nicht versteht, dass
       er vor Gericht steht und sich nicht zu seinem Fall äußern kann. Das
       Bundesgericht befand: Für ein Sicherungsverfahren, bei dem es darum geht,
       ob ein Mensch zwangsweise untergebracht wird, braucht der Betroffene nicht
       vernehmungsfähig sein.
       
       Vor einem Jahr betrat der damals 83-jährige Ernst Niemann (Name geändert)
       einen Verhandlungsaal des Kieler Landgerichts. Der ehemalige Polizist hatte
       eine ebenfalls betagte und geistig behinderte Frau geschlagen, ihr seine
       Hosenträger um den Hals geschlungen und sie über den Boden gezerrt. Das
       Opfer wurde schwer verletzt, es hätte sterben können. Die Frau lebte mit
       Niemann im selben Flur eines Pflegeheims in der Gemeinde Osdorf in
       Schleswig-Holstein.
       
       Niemann leidet unter Demenz. Mutmaßlich glaubte er, die Frau sei eine
       Kriminelle, die er dingfest machen müsste. Dass der Rentner sich weder an
       die Tat erinnerte noch begriff, dass er als Angeklagter vor Gericht stand,
       war ihm bei der Verhandlung deutlich anzumerken. Auf Fragen des Richters
       antwortete er unzusammenhängend.
       
       Doch ein Angeklagter muss grundsätzlich anwesend und in der Lage sein, dem
       Geschehen zu folgen – so sagt es die Strafprozessordnung, und so
       argumentiert auch der Kieler Anwalt und Medizinrechtler Axel Höper, der
       Niemann vertrat: „Wenn der Angeklagte nicht versteht, worum es geht, muss
       das Verfahren eingestellt werden, sonst wird er zum Objekt staatlichen
       Handelns“, sagte Höper der taz. Er ließ daher das Urteil des Kieler
       Landgerichts vom BGH prüfen.
       
       ## Niemann war bereits öfter handgreiflich geworden
       
       Das Landgericht schickte Niemann für eine unbegrenzte Sicherungsverwahrung
       in die forensische Klinik in Schleswig, weil er bereits öfter handgreiflich
       geworden war. In der Klinik sind vor allem Straftäter untergebracht.
       Bestraft im juristischen Sinn wird Niemann aber für seine Tat nicht: „Dass
       er schuldunfähig ist, hat das Gericht festgestellt“, sagt Höper.
       
       Immer wieder müssen Gerichte sich mit Menschen befassen, die aufgrund ihres
       geistigen Zustands nicht vernehmungs- oder verhandlungsfähig sind.
       Angesichts der Alterung der Gesellschaft sind zunehmend [2][Demenzkanke]
       darunter. Die Urteile fallen unterschiedlich aus: So verurteilte das
       Oberlandgericht Hamm im Jahr 2005 einen Demenzkranken in Abwesenheit. Weil
       die Verteidigung das Gutachten eines Neurologen vorlegte, laut dem der Mann
       dem Stress eines Prozesses nicht gewachsen sei, wurde aber anerkannt, dass
       sein „Fernbleiben nicht schuldhaft“ gewesen sei.
       
       Bundesweite Schlagzeilen machte der Fall von Hans Lipschis: Der gebürtige
       Litauer diente als Mitglied der Waffen-SS von 1941 bis 1944 im KZ
       Auschwitz. 2013 begannen Ermittlungen gegen ihn, im Mai wurde er verhaftet
       und kam in Untersuchungshaft. Ein Prozess wegen Beihilfe zum tausendfachen
       Mord wurde aber nie eröffnet: Bei Lipschis, damals 94, wurde eine
       beginnende Demenz diagnostiziert, die es ihm unmöglich machen würde, den
       Prozess in seiner Gänze zu verstehen. Das Verfahren wurde eingestellt.
       
       Bei einem Verfahren um die gesicherte Unterbringung müssten dieselben
       Regeln gelten wie bei einem Strafprozess, argumentierte Anwalt Höper im
       Revisionsprozess: „Ein nicht vernehmungsfähiger Beschuldigter ist zu einer
       sachgemäßen Verteidigung nicht in der Lage, und es ist unvertretbar, seine
       Beteiligungsrechte hinter die Sicherungsinteressen der Allgemeinheit
       zurücktreten zu lassen.“
       
       Der BGH sah das anders: Ein Sicherungsverfahren könne „unabhängig vom
       psychischen Zustand des Beschuldigten durchgeführt werden“, heißt es im
       Urteil, das der taz vorliegt. Es liege in der Natur der Sache, dass jemand,
       für den eine sichere Unterbringung überhaupt im Raum steht, auch im Prozess
       und in seiner Beteiligung eingeschränkt sei. Dies sei „vom Gesetzgeber
       bewusst hingenommen worden“. Wichtig sei, dass der Beschuldigte vom Gericht
       gehört wird – das war in Kiel der Fall.
       
       14 Jul 2022
       
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