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       # taz.de -- Erster Jahrestag der Flutkatastrophe: Die Angst vor dem Regen
       
       > Ein Jahr nach der Flutkatastrophe im Ahrtal lebt Familie Ataoğlu weiter
       > in einem winzigen Haus. Viele kämpfen bis heute mit dem Trauma. Ein
       > Besuch.
       
       Ahrtal taz | Vierunddreißig Quadratmeter groß, etwa so viel Platz wie in
       einem Boxring, hat die fünfköpfige Familie Ataoğlu in ihrem vorübergehenden
       Zuhause in einem Tiny House in Sinzig an der Mündung der Ahr in den Rhein.
       Auf engstem Raum befindet sich eine kleine Kochnische und ein Bad, ein
       Schlafzimmer für die Eltern, zwei Einzelbetten für die Töchter und eine
       Schlafcouch für den Sohn. Statt eines Boxkampfs fechtet die Familie hier
       den Kampf gegen die Folgen der Flut aus.
       
       Der 56-jährige Familienvater, Sinan Ataoğlu, zeigt auf sein früheres
       Zuhause, nur drei Gehminuten entfernt von der Siedlung. „Die Flut hat hier
       in kürzester Zeit alle Erinnerungen weggespült.“ Nur wenige Meter entfernt
       fließt die Ahr, der kleine Fluss, der in der Nacht vom 13. auf den 14. Juli
       2021 zu einem reißenden Strom wurde und viele der Bewohner*innen im
       Schlaf überraschte.
       
       Das rheinland-pfälzische Sinzig wurde, genau wie der restliche
       [1][Landkreis Ahrweiler], besonders schwer von den verheerenden
       Wassermassen getroffen. Familie Ataoğlu konnte sich nur noch auf das Dach
       ihres Hauses retten. Mitten in der Nacht wurden sie evakuiert. Auch wenn
       der Gedanke an die verlorenen Erinnerungen schmerzt, sagt der
       Diplomingenieur Ataoğlu, sie hätten immerhin noch ihr Leben. „In der
       Caritas-Einrichtung für Menschen mit Behinderung sind nebenan [2][zwölf
       Menschen ertrunken]. Die hat keiner rausgeholt.“ Er macht eine
       nachdenkliche Pause. „Material kann man ersetzen, aber Leben nicht.“
       
       Das Erdgeschoss der Familie Ataoğlu wurde von den Wassermassen der
       schlimmsten Naturkatastrophe seit 60 Jahren in Deutschland plattgemacht.
       Bevor sie Ende Januar in das Tiny House gezogen sind, mussten sie im
       Dachgeschoss ihres zerstörten Hauses wohnen – knapp sieben Monate lang ohne
       fließend Wasser. Die Siedlung mit 24 Häuschen aus Holz hat die Stadt Sinzig
       durch Spendengelder der Aktion „[3][Deutschland hilft]“ finanziert. Die
       Ataoğlus zahlen hier 400 Euro Miete monatlich.
       
       „In der ersten Zeit war es eine Erleichterung für uns, endlich wieder eine
       warme Dusche und ein Bett zu haben. Nach einer Weile wurde es auf so wenig
       Platz allerdings sehr anstrengend, denn es gibt kaum Privatsphäre.“ Das
       gilt besonders für die Kinder, erzählt Ataoğlu. Die drei im Alter von 15,
       21 und 25 Jahren müssen weiterhin in die Schule oder zur Universität. Da
       blieb kein Raum, um zu lernen oder das Geschehene zu verarbeiten. „Die
       Kinder haben heute noch Angst, wenn es regnet.“
       
       ## Ins Ahrtal gezogen, um zu helfen
       
       Zwanzig Autominuten von Sinzig entfernt, in Bad Neuenahr-Ahrweiler, sitzt
       die Traumapädagogin Aljona Barz. Die 35-Jährige hat ihren Job und ihre
       Wohnung in Bielefeld gekündigt, um die Betroffenen im Ahrtal zu
       unterstützen. Mittlerweile arbeitet sie für die Initiative Hoffnungswerk,
       die sich nach der Flutkatastrophe gegründet hat. „Genau wie die äußeren
       Aufräumarbeiten, wird die innere Verarbeitung auch noch Jahre nach der Flut
       weitergehen“, sagt sie. Viele der Betroffenen kämpfen weiterhin mit dem
       erlebten Trauma, berichtet Barz. Einige können nachts zum Beispiel nicht
       schlafen oder bekommen, so wie die Kinder von Familie Ataoğlu, Angst, wenn
       es regnet.
       
       Die Arbeit von Barz besteht darin, die Menschen in der Bewältigung ihres
       Alltags zu unterstützen. „Einfach irgendwie zu überleben erst mal“, sagt
       sie. Barz arbeitet mit den Menschen zum Beispiel daran, wie sie ihr Leben
       wieder selbstbestimmter gestalten können, denn derzeit sei es vor allem
       fremdbestimmt. „Sie sind abhängig von Behörden, Genehmigungen, Krediten.“
       
       Existenzielle Ängste prägen den Alltag der Betroffenen bis heute. „Einige
       stehen vor ihrem leeren Grundstück und können nicht anfangen zu bauen, weil
       sie noch immer keine Baugenehmigung erhalten haben oder ihnen die
       finanziellen Ressourcen fehlen. Bei anderen wurde erst vor einem Monat das
       Haus abgerissen, in das sie zuvor ganz viel Arbeit gesteckt hatten.“
       
       Aus Sicht der Traumapädagogin sind das sehr schwierige Rahmenbedingungen
       für die psychische Bewältigung der Katastrophe. „Zu den emotionalen Sorgen
       kommen noch finanzielle, familiäre und bürokratische hinzu. Da bleiben
       keine Kapazitäten übrig, um das Erlebte zu verarbeiten.“ Immer mehr
       Betroffene kämen in der letzten Zeit deswegen in die Psychiatrie. „Denn
       egal wie viel Reserven du hast, irgendwann ist es auch mal aufgebraucht“,
       sagt Barz, die die Schicksale der betroffenen Familien sichtlich mitnehmen.
       
       „Viele Betroffene haben im Moment das Gefühl, sie wären schwach, denn die
       Menschen werden – vor allem in den Medien – oft als Opfer bezeichnet“, sagt
       Barz. „Das, finde ich, ist eine sehr schwierige Wortwahl. Denn im
       Gegenteil: Sie sind Expert*innen ihrer Situation und richtig starke
       Kämpfer*innen, die jetzt schon seit einem Jahr alles durchstehen, während
       wir schon allein durch den Ukrainekrieg und Corona ziemlich am Limit sind.“
       
       Viele, die seit Generationen in der Region verwurzelt sind, überlegen
       wegzuziehen. Einige haben es bereits getan. Auch Sinan Ataoğlus Frau wollte
       nach der Katastrophe so schnell wie möglich weg aus Sinzig. Der 56-Jährige,
       der in der Kleinstadt aufgewachsen ist, musste sie davon überzeugen, zu
       bleiben und ihr Haus wieder aufzubauen.
       
       Für diejenigen, die bleiben, gibt es nur wenige Optionen, um sich von der
       belastenden Realität abzulenken. Alles, was es einst gab, ist heute
       zerstört. „Zur Verarbeitung des Traumas gehört eben nicht nur, darüber
       sprechen zu können, sondern auch, dass das Leben weiterhin noch Spaß
       macht“, erklärt Barz. So versuchen sie und ihr Team auch Momente zu
       schaffen, wo es bewusst nicht nur um schwierige Themen geht.
       
       ## Das Café des Hoffnungswerks
       
       Seit April soll ein ungewöhnliches Café-Projekt die notwendige Abwechslung
       in den Alltag der Betroffenen bringen. Auch Aljona Barz ist dort
       anzutreffen. Umgeben von leeren Ladenvitrinen in Ahrweiler leuchtet in
       einem der Schaufenster goldenes Licht in der Altstadt auf. Davor steht ein
       Schild: „Schön, dass du da bist.“ Seit April hat hier der sogenannte
       Begegnungsort des [4][Hoffnungswerk]s eröffnet. Das Café füllt sich so
       schnell, wie sich die Kuchentheke leert. Das Angebot kommt in der Stadt
       sehr gut an. Dort sitzen Alt und Jung, Betroffene und Helfer*innen,
       Besucher*innen und Alteingesessene zusammen.
       
       „Schlimm ist für die Menschen auch die Einsamkeit und die fehlende
       Ablenkung. Beides wird hier im Café gestillt“, bestätigt Tanja Blüm, die
       als Koordinatorin des Begegnungsortes tätig ist. Blüm hat sich nach der
       Flutkatastrophe Urlaub von der Arbeit genommen, um mit einem Bollerwagen
       mit Café von Haustür zu Haustür zu gehen und mit den betroffenen Menschen
       ins Gespräch zu kommen.
       
       Mittlerweile arbeitet auch sie Vollzeit bei der Initiative des
       Hoffnungswerks. Ihre elfjährige Tochter Amelie hilft in den Sommerferien
       hinter der Theke mit. Für die Verpflegung sorgen außerdem auch die vielen
       anderen Ehrenamtlichen, die die Gäste in ihren schwarzen Shirts mit
       Hoffnungswerk-Aufdruck bedienen. Sieben von ihnen, darunter auch die
       Traumapädagogin Barz, wohnen in einer Wohngemeinschaft über dem
       Begegnungsort.
       
       Gerufen hat sie der Theologe Sascha Neudorf. Der evangelische Pastor,
       bekleidet mit Baseballcap, Jeans und Kapuzenjacke, ist seit Beginn bei den
       Aufräumarbeiten dabei. Dafür wurde er extra von seiner evangelischen
       Gemeinde in Siegburg freigestellt. Mittlerweile ist der 41-jährige Theologe
       so etwas wie PR-Manager, Start-up-Gründer, Seelsorger und Handwerker in
       einem.
       
       ## Die WG für Verrückte
       
       Während der Bergungsarbeiten ist ihm aufgefallen, dass die Menschen von
       morgens bis abends nur auf den Baustellen sind. „Ihnen fehlen die sozialen
       Kontakte und Orte, wo sie sich begegnen können.“ So entstand die Idee eines
       [5][mobilen Café-Bus], ein umgebauter Reisebus. Um den Café-Bus zu
       betreiben, suchte er nach Menschen, die längerfristig helfen können. Auf
       YouTube startete er einen Aufruf und fragte: „Wer ist so verrückt, nächste
       Woche ins Ahrtal zu ziehen? Wir zahlen die Miete und die Verpflegung.“
       Insgesamt sieben Menschen waren damals verrückt genug.
       
       Dabei haben Neudorf und sein Team darauf geachtet, dass die
       WG-Mitbewohner*innen etwas mitbringen, was gerade in der Region gebraucht
       wird. „Wir haben großartige Menschen gefunden, darunter auch unsere
       Traumapädagogin Aljona Barz.“ Mittlerweile gibt es vier solcher
       Ehrenamtlichen-WGs in Dernau, Altenahr und Ahrweiler. Gemeinsam eröffneten
       sie auch die beiden Begegnungsorte. Pastor Neudorf und sein Team planen
       auch schon die nächsten, denn eins wird klar: Nach einem Jahr brauchen die
       Menschen vor allem Abwechslung in ihrem durch die Flut bestimmten Alltag.
       
       Wenn man Pastor Neudorf fragt, wie die Betroffenen dem bevorstehenden
       Jahrestag der Flutkatastrophe entgegenblicken, zeigt sich einmal mehr,
       Trauer und Trauma werden auf unterschiedliche Weise verarbeitet. „Die einen
       trauern still, die anderen feiern, dass sie noch am Leben sind“, antwortet
       Neudorf. Während in Altenburg im Landkreis Ahrweiler der Tag in kleinem
       Kreis und Gedenken an die Ertrunkenen begangen wird, soll es im Nachbarort
       Kreuzberg eine große Veranstaltung mit Konzerten und Spesen geben, erzählt
       er.
       
       Sinan Ataoğlu wird zu keiner der Gedenkveranstaltungen gehen. Der
       Diplomingenieur sieht keinen Sinn darin, die ganzen Erinnerungen wieder
       hochkochen zu lassen. „Ich will das alles vergessen, dafür brauche ich
       keinen Jahrestag. Es wird zu viel Geld in die Veranstaltungen reingesteckt,
       das beim Wiederaufbau dann fehlt.“ Der Landkreis Ahrweiler hatte im Vorfeld
       150.000 Euro für die Gedenkveranstaltung angesetzt. Nach Protesten wurde
       der Betrag auf 30.000 Euro gekürzt.
       
       Von der Kommune hat Familie Ataoğlu außer der Bewilligung des
       Härtefallantrags nur sehr wenig finanzielle Unterstützung erhalten. Den
       lokalen Politiker*innen vertraut er nicht. In seiner Stadt wurden
       keine Maßnahmen getroffen, um eine weitere Flut zu verhindern, sagt
       Ataoğlu. „Irgendwann wird es uns wieder treffen, denn die Politik hat
       nichts gelernt.“
       
       Wohl bald kann die Familie wieder in ihr Zuhause zurückkehren. Am meisten
       freut sich der Vater auf seinen Alltag. Er erzählt, dass er heute nach
       einem Jahr das erste Mal die Wäsche wieder zu Hause waschen konnte. „So
       etwas ganz Banales, aber es ist ein großartiges Gefühl, endlich wieder zu
       Hause waschen zu können.“
       
       14 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://kreis-ahrweiler.de/
   DIR [2] /Ertrunkene-Menschen-mit-Behinderung/!5785903
   DIR [3] https://www.aktion-deutschland-hilft.de/?wc_id=50526&ref_id=goo2&gclid=EAIaIQobChMI_uq55Yv2-AIV_QIGAB39hQ9lEAAYASAAEgLqq_D_BwE
   DIR [4] https://hoffnungswerk.org/
   DIR [5] https://hoffnungswerk.org/cafe-busse-begegnungsorte/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sonja Smolenski
       
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