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       # taz.de -- Weniger Hilfe für Langzeitarbeitslose: Lindners herzlose Sparpläne
       
       > Obwohl die Zahl der Langzeitarbeitslosen eher steigt, will der
       > Finanzminister 600 Millionen Euro für deren Wiedereingliederung
       > einsparen. Wie kann das sein?
       
   IMG Bild: Hat für jene, die weniger zu feiern haben, nicht viel übrig: Finanzminister Christian Lindner
       
       [1][Christian Lindner hat mit viel Chichi geheiratet] – und die Republik
       stand Kopf. Nicht, weil der Finanzminister auf der Reicheninsel Sylt die
       Liebe und das Leben gefeiert hat, sondern weil er jenen, die wenig bis
       nichts zum Feiern haben, künftig noch weniger gönnen will. Zumindest sehen
       [2][Lindners Sparpläne] vor, 600 Millionen Euro weniger in ein Programm für
       Langzeitarbeitslose zu stecken.
       
       Das sei „fatal für die Menschen und für das Erwerbspotenzial, auf das wir
       bei einem weiter steigenden Fachkräftemangel doch so dringend angewiesen
       sind“, kommentierte [3][Alexander Schweitzer], Arbeitsminister von
       Rheinland-Pfalz, die geplanten Abstriche. „Den Rotstift gerade bei der
       Förderung von Arbeit und Qualifizierung von Langzeitarbeitslosen und
       Geringqualifizierten anzusetzen, ist unanständig“, empörte sich
       Diakonievorständin Maria Loheide.
       
       DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel nannte Lindners Plan
       „[4][arbeitsmarktpolitische Irrlichterei]“, und die Fraktionschefin der
       Linken im Bundestag, Amira Mohamed Ali, findet sie gar „skrupellos“. Zeigt
       FDP-Mann Lindner mit seinem Vorstoß, wie unsozial, kaltblütig, marktliberal
       er denkt? Wirft die Ampel ihren sozialpolitischen Anspruch über den Haufen?
       Ganz so einfach ist es nicht. Im Gegenteil, es ist hochkomplex, höchst
       kompliziert.
       
       Der Etat, der für die Kürzungen vorgesehen ist, umfasst aktuell 4,8
       Milliarden Euro. Er ist Teil eines Förderinstruments mit dem sperrigen
       Titel „Teilhabechancengesetz“, das die Bundesregierung 2019 geschaffen hat,
       um Menschen in besonderen Lebenslagen auf besondere Weise zu helfen:
       Ältere, Kranke, Ex-Drogenabhängige, Menschen ohne oder mit schlechtem
       Schulabschluss, mit gebrochenen Erwerbsbiografien.
       
       ## Lohnzuschüsse bis zu 100 Prozent
       
       Um ihnen den Wiedereinstieg ins Berufsleben zu ermöglichen, erhalten
       soziale Einrichtungen, Kommunen und freie Wirtschaftsunternehmen Zuschüsse
       aus diesem Etat, wenn sie Betroffene einstellen – je nach Dauer der
       Arbeitslosigkeit und der neuen Beschäftigung zwischen 50 und 100 Prozent
       des Lohns für die Betroffenen.
       
       Dafür sollen künftig nur noch 4,2 Milliarden Euro da sein. Ist das zu
       wenig, um den vielen Menschen einen Weg zurück ins Arbeitsleben zu ebnen?
       Lindners Finanzministerium verweist darauf, dass der Bedarf für den
       sozialen Arbeitsmarkt, wie die Wiedereingliederungshilfe auch genannt wird,
       aktuell nicht so groß sei, weil es inzwischen weniger Langzeitarbeitslose
       gebe als noch vor ein paar Jahren.
       
       „Bei dem Haushaltsansatz für das Jahr 2023 wurde berücksichtigt, dass in
       der Grundsicherung für Arbeitssuchende die Anzahl der erwerbsfähigen
       Leistungsberechtigten in den letzten Jahren zurückgegangen ist“, heißt es
       dazu in einer Antwort auf eine taz-Anfrage.
       
       Das stimmt nicht ganz. In der Tat ist die Zahl der Arbeitslosen von 2020,
       dem ersten Pandemiejahr mit vielfacher Kurzarbeit und zahlreichen
       Entlassungen, bis 2021 zurückgegangen: von 2,7 Millionen auf gut 2,6
       Millionen Betroffene. Es gab Coronatests und Impfungen, so konnten
       Restaurants, Geschäfte und Cafés wieder öffnen, Menschen wieder verreisen.
       Kurz: Unternehmen stellten wieder ein.
       
       Davon profitierten allerdings nicht die Langzeitarbeitslosen. Also jene
       Menschen, die mehr als ein Jahr und länger ohne Job waren. Deren Zahl
       erhöhte sich laut Arbeitslosenstatistik von knapp [5][820.000] im Jahr 2020
       auf über 1 Million im Folgejahr. Zum Vergleich: 2019, also vor der
       Pandemie, waren 730.000 Menschen länger ohne Job.
       
       „Die schlechte Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes und die sehr
       eingeschränkt mögliche Durchführung von Fördermaßnahmen für arbeitslose
       Menschen haben maßgeblich zum Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit
       beigetragen“, erklärt die Arbeitsagentur zur aktuellen Lage. Oder einfach
       ausgedrückt: Langzeitarbeitslose haben auf dem normalen Arbeitsmarkt in
       Krisenzeiten keine Chance.
       
       ## Gelder angeblich nicht ausgeschöpft
       
       Hier kommt Arbeitsminister Hubertus Heil ins Spiel. Der SPD-Mann lobt den
       sozialen Arbeitsmarkt – entgegen der Einschätzung der Arbeitsagentur – als
       „hocherfolgreiches Instrument“. Bislang hätten knapp 50.000
       Langzeitarbeitslose darüber einen Job gefunden. In der Regel sind das
       Hilfsarbeiten: Parks reinigen, Müll wegräumen, Beete gießen,
       Senior:innen zum Arzt fahren.
       
       Die Zahl derer, die nicht „eingegliedert“ werden, bleibt aber nach wie vor
       hoch. Reichen die von Lindner eingeplanten 4,2 Milliarden Euro, um sie
       angemessen zu unterstützen? Heil lässt kryptisch mitteilen, dass sich „die
       für den Bundeshaushalt 2023 im Entwurf vorgesehenen Mittel für
       Eingliederungsleistungen auf dem Niveau dessen bewegen, was im Jahr 2019
       für Eingliederung ausgegeben worden ist“. Zur Erinnerung: Damals waren
       730.000 Menschen länger ohne Job, aktuell sind es gut 950.000.
       
       Was, wenn das Geld nicht reicht? Die rätselhafte Antwort aus dem
       Arbeitsministerium: „Hubertus Heil wird sich weiterhin für eine aktive
       Arbeitsmarktpolitik und für eine entsprechende dauerhafte Mittelausstattung
       des sozialen Arbeitsmarkts starkmachen.“ Wieso lässt er dann zu, dass
       Lindner den Langzeitarbeitslosenetat kürzt? In Zeiten, in denen sogar die
       Mittelschicht soziale Ängste entwickelt?
       
       Eine Erklärung führt wieder zurück zum Etat. Der ist angeblich gar nicht
       komplett ausgeschöpft worden. Arbeitgeber:innen hätten also weniger
       Geld daraus beantragt, als machbar gewesen wäre. Was infolge der Pandemie
       sogar nachvollziehbar wäre. Ob sich daraus allerdings ableiten lässt, das
       Geld werde nicht mehr gebraucht, ist Auslegungssache.
       
       Arbeitsminister Heil hatte für diese Summen jedenfalls einen innovativen
       Verwendungszweck: „… für eine intensivere Betreuung durch eigenes
       Personal.“ Was heißt das alles für die kommenden Jahre? Die „für 2023
       veranschlagte Höhe“ wird „für die Jahre bis 2026 fortgeführt“ – Änderungen
       vorbehalten.
       
       14 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Hochzeitsfeier-von-Christian-Lindner/!5863982
   DIR [2] /FDP-will-bei-Hartz-IV-massiv-kuerzen/!5862668
   DIR [3] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/christian-lindner-alexander-schweitzer-warnt-vor-kuerzungen-bei-langzeitarbeitslosen-a-badea4c7-8f26-4a02-9699-b0c8b34ee457
   DIR [4] https://www.tagesspiegel.de/politik/der-finanzminister-und-die-langzeitarbeitslosen-boeser-lindner-schlauer-lindner/28488920.html
   DIR [5] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/666199/umfrage/anzahl-der-langzeitarbeitslosen-in-deutschland/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Simone Schmollack
       
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