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       # taz.de -- Familiendrama aus Belgien: Der Teufel steckt im Alltag
       
       > Der belgische Regisseur Joachim Lafosse erzählt in „Die Ruhelosen“ von
       > einem Vater mit bipolarer Störung. Er tut das mit sensiblem Realismus.
       
   IMG Bild: Wenig Distanz: Damien (Damien Bonnard) und Leïla (Leïla Bekthi) in „Die Ruhelosen“
       
       Grund zur Beunruhigung gibt es, Anzeichen, noch keine Gewissheit: Damien am
       Steuer eines Motorboots fährt weit hinaus auf das Meer, sein kleiner Sohn
       Amine genießt die Fahrt. Da springt, ohne Ankündigung, Damien ins Wasser,
       ruft dem Sohn zu, das Steuer zu übernehmen, er schwimme an den entfernt
       liegenden Strand. Am Strand wartet Leïla, wartet, der Sohn lenkt das
       Motorboot ohne Probleme zurück.
       
       Nun warten sie auf Damien, Leïla geht auf und ab, Damien taucht nicht auf,
       und dann kommt er doch, schwimmt heran und sieht kein Problem. Es ist nicht
       klar, was eigentlich los ist, es ist nicht klar, ob es überhaupt ein
       Problem gibt, aber Leïla, und mit ihr der Film, und mit dem Film wir, sind
       gleich mit dieser ersten Szene in Unruhe versetzt, auch wenn diese Unruhe
       zunächst unbestimmt bleibt.
       
       Freunde kommen zu Besuch, Serge, Damiens Galerist, hat seine kleine Tochter
       dabei. Übermütig, wenn nicht übergriffig wirft Damien sie zum Empfang in
       den Pool. Bald darauf zieht Damien im Pool seine Bahnen, erst denkt man
       sich nichts, dann hört er damit nicht mehr auf.
       
       Es sind solche erst leisen, dann auch heftigeren Irritationen, mit denen
       Joachim Lafosse, ohne zunächst irgendwas zu erklären, die Zuschauer*in
       irritiert. Wasser, Gewässer, sind wieder und wieder der Schauplatz, am Meer
       beginnt der Film, an einem See wird er enden: Metapher für Oberflächen, die
       ruhig scheinen, unter denen die Unruhe jedoch lauert.
       
       ## Grenzen überschreiten
       
       Es sind keine großen Geschichten, sondern Familienszenen, die sich
       entfalten. Kleinfamilienszenen, Vater, Mutter, Kind, Leïla, Damien und
       Amine. Und nach und nach werden die Grenzüberschreitungen gravierender, man
       beginnt zu begreifen, dass in der Tat etwas nicht stimmt mit Damien, dass
       Leïla und auch Amine nicht ohne Grund aufmerksam sind.
       
       Eine kurze Szene noch im Urlaub, Leïla in einem Krankenhausflur, was hier
       geschieht, wird nicht genauer erklärt. Dann ist die Familie mit einem ganz
       beiläufigen Schnitt aus dem Urlaub zurück. Damien in seinem Studio, er
       malt, steigert sich ins Malen hinein. Eines Morgens schnappt er sich Amine
       und fährt ihn zur Schule im Dorf, Leïla hinterher, es ist eine
       lebensgefährliche Fahrt.
       
       Andere Szene, kurz darauf, in der Dorfbäckerei: Damien weigert sich, Maske
       zu tragen, kauft im Überschwang Kleingebäck und das Tablett gleich dazu
       mit. Der Überschwang erweist sich nun immer klarer als [1][manische Phase
       eines bipolar Kranken]. Es ist nicht das erste Mal, so erklärt sich die
       Unruhe Leïlas schon bei den unklaren Zeichen.
       
       Damien hat offenbar aufgehört, das ihm verschriebene Psychopharmakon
       Lithium einzunehmen, Leïlas Versuche, ihn unter Kontrolle zu halten, werden
       verzweifelter. Sie holt Damiens Vater zu Hilfe, sie ruft Sanitäter, die den
       Kranken aber nicht gegen dessen Willen in die Psychiatrie mitnehmen können.
       
       Lafosse schildert all das mit Geduld und Sinn für die Nuance, dramatisiert
       nicht über Gebühr, sehr sparsam nur wird die Musik von Ólafur Arnalds und
       Antoine Bodson eingesetzt. Sie soll die Stimmung der Szenen nur
       unterstreichen und akzentuieren.
       
       ## Erinnerungen an den eigenen Vater
       
       Lafosse hat das Drehbuch gemeinsam mit einer Reihe Koautor*innen
       verfasst, er hat ganz gewiss genau recherchiert, nicht zuletzt beruht die
       Geschichte auf Erinnerungen an seinen eigenen bipolaren Vater. Entsprechend
       wird die Perspektive des Sohnes, Amine, immer wieder ins Zentrum gerückt –
       den Gabriel Merz Chammah mit beeindruckendem Verzicht auf jede kindliche
       Niedlichkeit spielt.
       
       Ohnehin geht es aber nicht in erster Linie um die Darstellung einer
       Krankheit, nicht einmal, wenngleich das dazugehört, um das Porträt eines
       Kranken. Der Belgier Joachim Lafosse bleibt sich treu als Filmemacher, der
       Störungen des Zwischenmenschlichen in bürgerlichen Milieus observiert.
       Immer beobachtet er dabei weniger die Individuen als ihre gestörten
       Beziehungssysteme.
       
       Auf der internationalen Szene tauchte er [2][2006 auf, als das Festival von
       Venedig „Nue proprieté“] im Wettbewerb zeigte: ein Drama um eine
       geschiedene Mutter – gespielt von Isabelle Huppert – die zu neuen Ufern
       aufbricht und ihre gerade erwachsenen Zwillingssöhne in eine Krise stürzt.
       
       In seinem vorletzten [3][Film, „Die Ökonomie der Liebe“ (2016)], stand
       wiederum eine Familie im Zentrum, Vater, Mutter, zwei Kinder, aber die
       Beziehung der Eltern ist zerfallen, es gibt kein Zurück zu Liebe und Glück.
       Danach hat Lafosse in „Continuer“ (2018) eine Mutter und ihren 18-jährigen
       Sohn auf eine Reise in die kirgisische Steppe geschickt, wo sie ihr
       schwieriges Verhältnis in der Fremde krisenhaft neu justieren.
       
       Einfache Lösungen bietet Lafosse niemals an, auch nicht in „Die Ruhelosen“,
       mit dem er es 2021 das erste Mal in Cannes in den Wettbewerb schaffte.
       Wichtiger noch: Es gibt auch keine simplen Beschreibungen der jeweiligen
       Lage. Der Teufel steckt im Alltag und seinen vielen Details.
       
       ## Den Raum der Fiktion minimieren
       
       Das Mittel der Wahl ist dabei ein auf den ersten Blick formal wenig
       auffälliger filmischer Realismus. Die Einstellungen sind funktional, man
       ist und bleibt nahe dran an den Figuren, alle Aufmerksamkeit gilt dem Spiel
       der Darsteller*innen, besonders ihrem Zögern, den Unsicherheiten. Das ist
       kein Kino der geschliffenen Dialoge oder der mitreißenden Dramaturgie, kein
       Plot Point wird irgendwen retten, schön verpackte Einsichten nimmt keiner
       aus einem Film von Lafosse mit.
       
       Auffällig ist, dass die beiden zentralen Figuren jeweils den realen
       Vornamen ihrer Darsteller*in tragen: Leïla ist Leïla Bekhti, Damien ist
       Damien Bonnard. Der Raum der Fiktion im Sinne ausgedachter Erfindung wird
       so minimiert. Einerseits nach außen ein weiteres Realismussignal,
       andererseits auch ein Verfahren, das beim Drehen Nähe und Intimität
       schafft, als offener Vornamensraum für Bekhti und Bonnard.
       
       Erst eher subkutan auffällig, dann ein einziges Mal im Dialog thematisiert:
       ihre Körper. Leïla trägt weite Gewänder, versteckt ihre (sehr relative, nur
       angedeutete) Fülle darin. Damiens Bauch ist schon zu Anfang bei der
       Motorbootfahrt und dann immer wieder deutlich im Bild. Lesbar als Folge der
       Medikamenteneinnahme wird er nicht gleich, so wie Leïla ihre
       Gewichtszunahme erst später als Folge des Lebens in ständiger Sorge um Mann
       und Kind thematisiert.
       
       Ihr Leben in Sorge ist dann auch der eigentliche Gegenstand dieses Films.
       Verzweifelt versucht Leïla, die Familie, ihr tägliches Leben und das von
       Amine zusammenzuhalten angesichts des geliebten Mannes, der ihr und auch
       sich in manische Zustände entgleitet. Wieder und wieder sagt sie, sie könne
       nicht mehr; und macht doch erst einmal weiter.
       
       Der Film zeigt Amine und seine Unfähigkeit, den Vater und dessen
       abweichendes Verhalten genau zu begreifen. Damien beschwört ihn, sich
       niemals für ihn oder überhaupt für etwas zu schämen. Leichter gesagt als
       getan, schon gar, wenn der Vater in die Klasse stürmt und sichtlich nicht
       ganz bei sich ist.
       
       Es gibt, auch da ist Lafosse Realist, keine Heilung und keine Erlösung, nur
       ein Zusammenhalten, solange es geht; ein Aushalten der Lage, die keine
       Sicherheit bieten kann, was auch immer Damien sich und Amine und Leïla
       verspricht. Das bedingt offene Ende, das Lafosse findet, ist darum sehr
       konsequent. Man kann es nicht spoilern, denn die Bipolarität gehorcht
       keiner Katharsisdramaturgie. Das Leben geht weiter und kehrt in vertraute
       Bahnen zurück, aber nur, bis es wieder Grund zur Beunruhigung gibt.
       
       14 Jul 2022
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Ekkehard Knörer
       
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