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       # taz.de -- Sexualisierte Gewalt im ÖPNV: Der Zu-Nah-Verkehr
       
       > Wer sexualisierte Gewalt im öffentlichen Nahverkehr erlebt, sucht oft
       > vergeblich nach Hilfe. BVG und S-Bahn könnten etwa von London lernen.
       
   IMG Bild: Täter nutzen auch das Gedränge in Bus und Bahn aus
       
       BERLIN taz | Es ist ein Sonntagabend in der Ringbahn S41. An der
       Schönhauser Allee steigt eine Gruppe von jungen Männern in den Waggon,
       einer von ihnen setzt sich Vicky K. gegenüber. Sie erinnert sich:
       „Plötzlich merke ich, wie dieser Typ an meine Knie fasst und von dort an
       meinen Oberschenkeln hochstreicht, bis er mit den Fingerspitzen unter
       meiner Hose ist.“ Weiter kommt er nicht, denn K. schlägt seine Hände weg,
       gibt ihm eine Ohrfeige und ruft: „Das darfst du nie, nie, nie wieder bei
       jemandem machen!“ Der Täter schweigt, stattdessen setzt sich einer seiner
       Freunde zu ihm. Er sagt, Vicky K. solle sich nicht so aufregen. Andere
       Fahrgäste beobachten die Situation, tuscheln, aber keiner spricht K. an
       oder unterstützt sie. Am S-Bahnhof Wedding steigt sie aus.
       
       Dem Schock, der Angst folgt Orientierungslosigkeit: [1][Was kann sie jetzt
       tun?] Während sie darüber nachdenkt, ob sie am nächsten Tag wieder eine
       kurze Hose tragen kann, fährt der Täter einfach weiter S-Bahn. K. will den
       Vorfall wenigstens melden. Zuhause sucht sie am Laptop nach einer
       Meldestelle für Sexualisierte Gewalt im ÖPNV – Fehlanzeige. Auch sonst
       findet sie keine Infos darüber, wohin sie sich wenden kann.
       
       2021 zählte die Berliner Polizei 403 „Sexualdelikte im ÖPNV“. Dies zeigt
       zwar, dass sexualisierte Gewalt in Bus und Bahn mit etwas mehr als einem
       Vorfall am Tag ein allgegenwärtiges Phänomen ist. Aber [2][es sagt wenig
       über die wahren Ausmaße des Problems aus], denn [3][die Dunkelziffer ist
       hoch]. Viele Fälle werden nicht zur Anzeige gebracht. Auch K. stellte erst
       eine Anzeige, als eine Freundin, die bei der Polizei arbeitet, ihr dazu
       riet. „Ich selbst kam überhaupt nicht auf die Idee, die Polizei
       einzuschalten. Das kam mir irgendwie zu groß vor.“ Dabei beschäftigt sich
       Vicky K. sowohl privat als auch beruflich mit Feminismus und
       Geschlechtergerechtigkeit. Wenn selbst für sie die Hürden für eine Anzeige
       hoch sind; wie ist es dann für Betroffene, die kein Deutsch können, weniger
       Erfahrung mit bürokratischen Vorgängen haben oder keinen gut informierten
       Freundeskreis, der weiterhelfen kann?
       
       ## Niedrigschwelliges Angebot
       
       Ein niedrigschwelliges Angebot will [4][die Initiative „Catcalls of Berlin“
       machen. Sie betreibt einen Instagram-Account], an den Menschen ihre
       [5][Erfahrungen mit Catcalling im öffentlichen Raum schreiben] können. Hier
       landet vieles, was sonst nirgendwo gemeldet wird: „Hinterherpfeifen,
       vulgäre Sprüche, Anfassen, Exhibitionismus, sowas“, erklärt Hannah, die bei
       Catcalls of Berlin aktiv ist. “Wir wollen Betroffenen zeigen, dass sie
       gehört werden.“
       
       Was an Übergriffen im ÖPNV an Catcalls gemeldet wird, ist erschreckend: “Er
       streichelte mich in der vollen Bahn am Po. Als ich mich umdrehte, machte er
       einen Kussmund und streichelte weiter.“ “Er hat sich auf den Bahnsteig
       gelegt, um mir, 14, unter den Rock zu schauen.“ “In der Ringbahn: Er fing
       an, sich in die Hose zu fassen und zu stöhnen.“ Solche Übergriffe geschehen
       im gesamten öffentlichen Raum. „Aber in Bus und Bahn ist es oft besonders
       bedrohlich, weil es geschlossene Räume sind und man der Situation nicht
       einfach entfliehen kann“, so Hannah von Catcalls.
       
       Was unternehmen die Berliner Verkehrsbetriebe dagegen? Ein Interview zu dem
       Thema lehnt die BVG ab, Fragen könnten nur schriftlich beantwortet werden,
       zumal die Zuständigkeit bei strafrechtlich relevanten Vorfällen bei der
       Berliner Polizei liege. Doch die sieht die Hauptverantwortung bei der BVG:
       „Grundsätzlich obliegen Maßnahmen zur Sicherheit der Fahrgäste der BVG.“
       Die BVG kann keine konkreten Maßnahmen gegen sexualisierte Gewalt benennen.
       Stattdessen schreibt sie: Man arbeite mit der Polizei daran, „ein Höchstmaß
       an Sicherheit – und das umfasst auch die subjektive Sicherheit – zu bieten.
       Dieser Anspruch gilt für alle Gruppen von Fahrgästen“.
       
       ## Streife und Videokameras in der S-Bahn
       
       Auch die S-Bahn verweist auf allgemeine Sicherheitskonzepte:
       Deutschlandweit gebe es [6][eine Rund-um-die-Uhr-Streife von eigenen
       Sicherheitskräften und der Polizei]. Außerdem wolle man die Zahl der
       Videokameras ausbauen. Und auch hier der Verweis auf die in ihren Anlagen
       zuständige Bundespolizei. Immerhin erklärt sich ein Sprecher zum Interview
       bereit. Die Bundespolizei führe regelmäßig in „Präventionswochen“ Trainings
       mit den Verkehrsbetrieben durch, Schulungen zum Umgang mit sexualisierter
       Gewalt gibt es allerdings nicht.
       
       Das Problem wird auch nicht priorisiert, lässt zumindest die zweite Antwort
       des Sprechers erahnen: „Prävention ist wichtig, wir können aber nicht alles
       zur gleichen Zeit machen, unsere Ressourcen sind endlich.“ Zuletzt habe es
       etwa wieder Fälle von S-Bahn-Surfen gegeben: “Dort geht es um schwerste
       Verletzungen und sogar Tod.“ Man würde sich deshalb zunächst diesem
       Themenfeld widmen.
       
       Stefanie Lohaus von der feministischen Forschungsorganisation EAF kennt
       dieses Argument: „Dass die Datenlage so schlecht ist, führt dazu, dass das
       Problem nicht ernst genommen wird, so dass verantwortliche Stellen sagen
       können: Wir müssen nicht tätig werden, weil es kaum Vorfälle gibt.“ Lohaus,
       die zu sexualisierter Gewalt im öffentlichen Raum arbeitet, fordert daher,
       die Verkehrsbetriebe sollten selbst Daten über Übergriffe und Belästigung
       erheben, so wie es zum Thema Kundenzufriedenheit ganz selbstverständlich
       passiert.
       
       ## Notrufnummer in Londoner U-Bahn
       
       Die Londoner U-Bahn geht hier voran. In [7][einer Kampagne gegen
       sexualisierte Gewalt wurde in den Bahnen eine Telefonnummer ausgehängt,]
       unter der Betroffene Vorfälle unkompliziert melden können. Aushänge
       erklären, dass auch Belästigungen wie Anstarren nicht toleriert werden. In
       der Berliner U-Bahn dagegen beschäftigen Hinweisschilder sich mit
       Maulkörben für Hunde oder dem Verbot von Eisessen. Für Hinweise auf
       Sachbeschädigungen wird eine Belohnung von bis zu 1.000 Euro ausgelobt,
       aber nicht für Hinweise auf sexualisierte oder rassistische Gewalt. „Ich
       würde mir wünschen, dass das Thema Belästigung im ÖPNV genauso ernst
       genommen wird, wie andere Themen auch“, sagt Lohaus.
       
       Dabei sind die Hürden für Verbesserungen gar nicht hoch. Ein Video mit
       klarer Botschaft auf dem Werbebildschirm, Schulungen für Mitarbeitende zum
       Umgang mit Vorfällen sexualisierter Gewalt oder Aushänge mit Infos für
       Betroffene und Zeugen. Zum Beispiel darüber, dass es wichtig ist,
       Übergriffe schnell bei der Polizei zu melden, weil die Videoaufzeichnungen
       im Berliner ÖPNV sonst aus Datenschutzgründen nach 48 Stunden gelöscht
       werden.
       
       Diese Information hätte auch Vicky K. geholfen. Als sie schließlich ihre
       Anzeige stellte, ist diese Frist abgelaufen, die Videoaufzeichnungen sind
       bereits gelöscht. Stattdessen wird sie von der Polizei zur
       Täteridentifizierung geladen. In der Bildkartei, die ihr gezeigt wird, ist
       der Mann aus der S-Bahn nicht dabei. „Ich habe alles getan, was ich tun
       kann“, sagt sie. „Jetzt heißt es warten.“ Und fügt hinzu: „Zumindest taucht
       der Fall jetzt in der Statistik auf.“
       
       15 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Sexualdelikte-im-OePNV/!5482751
   DIR [2] /Sexuelle-Belaestigung-im-Alltag/!5752598
   DIR [3] /Sexuelle-Belaestigung-auf-der-Strasse/!5552191
   DIR [4] /Instagram-Account-gegen-Belaestigung/!5453580
   DIR [5] /Petition-gegen-Catcalling/!5713269
   DIR [6] https://www.tagesspiegel.de/berlin/sicherheit-bei-der-s-bahn-fuenf-neue-bahnwachen-und-20-hundestreifen/20874434.html
   DIR [7] https://tfl.gov.uk/info-for/media/press-releases/2021/october/new-campaign-launches-to-stamp-out-sexual-harassment-on-public-transport
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Grieger
       
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