URI: 
       # taz.de -- Bauernprotest in den Niederlanden: Streik gegen Umweltregeln
       
       > Niederländische Bäuer*innen rufen für Freitag zu einem
       > 15-Minuten-Ausstand auf. Sie suchen Verbündete im Kampf gegen strengere
       > Umweltauflagen.
       
   IMG Bild: Demonstration in Utrecht: Landwirt*innen blockieren Logistikzentrum einer Supermarktkette
       
       Berlin taz | Der [1][anhaltende Protest der niederländischen Bäuer*innen]
       wird immer breiter. An diesem Freitag um 15 Uhr soll im ganzen Land für
       fünfzehn Minuten die Arbeit niedergelegt werden. Aufgerufen dazu hat
       Agractie, einer der [2][im Zuge des Konflikts um Stickstoffemissionen]
       gegründeten Interessenverbände. Die Demonstrationen der vergangenen Wochen
       hätten gezeigt, dass „die Mehrheit der Niederlande die Bäuer*innen
       unterstützt“, so der Aufruf. „Werde auch aktiv und zeige deine Solidarität
       mit den Bauern und der Provinz“, heißt es dort.
       
       Der Hintergrund der Proteste: In den Niederlanden ist der Ausstoß von
       Stickstoffverbindungen mehr als dreimal so hoch wie im EU-Schnitt.
       Stickstoff, der mit Sauerstoff zu Stickstoffoxid oder mit Wasserstoff zu
       Ammoniak reagiert, trägt zu Feinstaub bei, schadet der Ozonschicht und
       Biodiversität und gefährdet damit Ökosysteme.
       
       Die niederländische Landwirtschaft ist eine der intensivsten Europas. Sie
       ist im Land der größte Verursacher von Stickstoffemissionen. Plänen der
       Regierung zufolge soll der Stickstoffausstoß bis 2030 halbiert werden. Im
       Juni wurde das Vorhaben konkretisiert. Unter anderem soll der Viehbestand
       bis 2030 um ein Drittel bis ein Viertel schrumpfen.
       
       Eine [3][„Stickstoffkarte“ gliedert das Land in Zonen], in denen die
       Emissionen um 12 bis 95 Prozent gesenkt werden sollen. Dagegen machen
       Bäuer*innen mobil – zunehmend rabiater mit brennenden Heuballen,
       Blockaden von Logistikzentren oder Straßen.
       
       Noch vor fast einem Monat zeigten Umfragen, dass eine Mehrheit der
       Niederländer:innen Sympathie für das Anliegen der Landwirt:innen
       hatte. Der aggressiven Charakter der Proteste macht viele Bürger:innen
       aber auch wütend. Nach einer aktuellen Leser*innenbefragung der
       großen Regionalzeitung De Stentor wollen 45 Prozent ein Ende der Proteste,
       41 Prozent stehen „voll dahinter“. 13 Prozent begrüßen zwar andere
       Solidaritätsbekundungen. Doch ein Streik, auch wenn er nur eine
       Viertelstunde dauert, geht ihnen zu weit.
       
       ## Problematische Symbole
       
       Gespalten ist die Bevölkerung auch angesichts eines Symbols, dass die
       renitenten Landwirt*innen verwenden: die umgedrehte niederländische
       Flagge. Inzwischen hängt die Fahne nicht nur an Traktoren, sondern auch,
       zumal in ländlicher Umgebung, an Wohnhäusern und Laternenpfählen. Einst
       wurde damit in der Seefahrt eine Notlage signalisiert. Heute wenden die
       Protestierenden den Slogan „Blau-Weiß-Rot, Schiff in Not“ auf die Lage im
       gesamten Land an. [4][Das macht sie anschlussfähig für andere Gruppen, die
       die Politik der Regierung in Den Haag scharf kritisieren, etwa
       Coronaleugner*innen und Rechte.]
       
       Die Entwicklung spiegelt sich in den aktuellen Umfragewerten der Parteien.
       Die erst 2019 im Zuge der damals aufkommenden Stickstoffdiskussion
       gegründete Bauern-Bürger-Bewegung (BBB), aktuell mit einem Sitz im
       Parlament vertreten, hat in den vergangenen Wochen rasant zugelegt. Je nach
       Quelle steht sie bei 12 bis 20 Sitzen. In einer Umfrage ist sie sogar die
       zweitstärkste Partei des Landes.
       
       Auch jenseits der Grenze finden die Proteste Widerhall. In Deutschland
       bekundeten mehrere Agrarverbände ihre Solidarität mit den niederländischen
       Kolleg*innen. Nahe der Grenze gab es mehrere Kundgebungen. In der
       vergangenen Woche besetzten Landwirt*innen aus beiden Ländern gemeinsam
       einen Kreisverkehr auf niederländischer Seite.
       
       Die Breitenwirkung des Konflikts liegt nicht nur an der Anschlussfähigkeit
       für Coroaleugner*innen und die Unterwanderung durch
       rechtspopulistische Kräfte. Vielmehr betrifft die Frage nach
       Stickstoffemissionen und ihrer Reduzierung zentrale Aspekte des
       ökologischen Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft. Fest steht, dass die
       Stickstoffwerte der Niederlande gesenkt werden müssen. Das höchste
       Verwaltungsgericht hat schon 2019 geurteilt, dass die Regierung zu wenig
       unternimmt, um, die Stickstoffemissionen zu reduzieren.
       
       ## Politik wartete ab
       
       Nur: Wie soll das [5][von der Regierung] vorgegebene Ziel – die Reduzierung
       um 50 Prozent bis 2030 – erreicht werden? Während die konkreten Pläne noch
       ausgearbeitet werden müssen, machen unter Landwirt*innen Szenarien die
       Runde, nach denen die Zahl der Agrarbetriebe um ein Drittel sinken wird.
       Aufgrund des Urteils des Verwaltungsgerichts liegen derzeit auch
       Bauprojekte still, mit denen die Wohnungsnot gelindert werden soll. Denn
       auch beim Bau wird Stickstoff freigesetzt.
       
       Die Kollision von Stickstoff- und Wohnungskrise resultiert auch daraus,
       dass die Frage nach der Zukunftsfähigkeit der Landwirtschaft lange
       aufgeschoben wurde. Die Online-Zeitung De Correspondent kommentiert diese
       Woche: „Schon seit 30 Jahren liegt die Lösung des Stickstoffproblems auf
       der Hand: Verringern des Viehbestands und weniger Kunstdünger im Ackerbau.
       Doch die Politik wand sich die ganze Zeit um den heißen Brei herum und
       machte das Problem damit nur noch schlimmer.“
       
       15 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Bauernproteste-in-den-Niederlanden/!5861364
   DIR [2] /Bauernproteste-in-den-Niederlanden/!5862702
   DIR [3] /Bauernproteste-in-den-Niederlanden/!5861364
   DIR [4] /Bauernproteste-in-den-Niederlanden/!5862702
   DIR [5] /Regierungsbildung-in-den-Niederlanden/!5822468
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tobias Müller
       
       ## TAGS
       
   DIR Landwirtschaft
   DIR Protest
   DIR Niederlande
   DIR Umweltbelastung
   DIR Düngemittel
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Krankenpflege
   DIR Niederlande
   DIR Landwirtschaft
   DIR Stickstoffdioxid
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Stickstoffkrise in den Niederlanden: Druck auf Bauern steigt
       
       Die Regierung in Den Haag bietet Landwirten und anderen
       Stickstoffverschmutzern eine Entschädigung an. Lehnen sie ab, droht eine
       Enteignung.
       
   DIR Protestbewegung in den Niederlanden: Von den Füßen auf den Kopf
       
       Mit umgedrehter Nationalflagge demonstrieren niederländische Bäuer*innen.
       Die Fahne ist auch Symbol einer zunehmend rechten Protestbewegung.
       
   DIR Streiks an den NRW-Unikliniken: Überfällige Einigung
       
       Die Beschäftigten der Unikliniken in NRW konnten endlich einen Erfolg
       erringen. Dass dafür 77 Tage Streik notwendig waren, ist skandalös.
       
   DIR Bauernproteste in den Niederlanden: Lauter und radikaler
       
       In den Niederlanden demonstrieren Landwirte mit Blockaden, Supermarktregale
       bleiben leer. Dabei gibt es Überschneidungen mit „Coronaleugnern“.
       
   DIR Bauernproteste in den Niederlanden: „Das ganze Land stilllegen“
       
       Die Bauernproteste in den Niederlanden verschärfen sich. Um neue
       Stickstoffregeln allein geht es den Landwirten dabei längst nicht mehr.
       
   DIR Bauernproteste in den Niederlanden: Demo gegen Stickstoffplan
       
       Niederländische Landwirte wehren sich gegen Maßnahmen zur Senkung des
       Stickstoffausstoßes. Sie wollen kein eiweisärmeres Futter für ihre Kühe.