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       # taz.de -- Georg Kreisler zum 100. Geburtstag: Die Kunst hat ihn gerettet
       
       > Georg Kreisler war Komponist, Dichter, Sänger, Wiener, Amerikaner, Jude.
       > Aber Schubladen mochte er nie. Am 18. Juli wäre er 100 Jahre alt
       > geworden.
       
   IMG Bild: Georg Kreisler, circa 1980
       
       Er war leise. Laut zu sein war nicht seine Art. Wäre er nicht der Sturkopf
       gewesen, der er war, hätte er als Künstler nicht überlebt. Man steckte ihn
       in die Schublade des Kabarettisten, da wollte er aber nicht rein. Und auch
       sein Oeuvre spricht dagegen. Denn Georg Kreisler war mehr. Er war
       Komponist, Dichter, Sänger, Wiener, US-Amerikaner, Jude. Aber was sollen
       diese Kategorisierungen, wenn man ein Unverstandener ist?
       
       Wer ihn nur von seinen bekanntesten Liedern wie „Tauben vergiften im Park“,
       dem „Opernboogie“ oder dem „Musikkritiker“ kennt, der hat kein
       realistisches Bild von diesem Mann, der ein Melancholiker war, der seine
       Empfindsamkeit auf wunderbar böswillige Weise in bizarre Poesie verwandeln
       konnte.
       
       Verglichen mit Gefühlen sind für Kreisler alle Wörter klein. Gefühle finden
       in der Kunst die Luft zum Atmen. Wenn er schrieb, kannten seine Worte ihr
       Ziel nicht. Doch was übrig blieb, war meistens ein unzulängliches Bild der,
       wie Kreisler es nennt, „absurden Gegenwart“.
       
       Im Lied [1][„Wo sind die Zeiten dahin“] vermisst er auf melancholische Art
       und Weise, zu Mozarts fröhlicher Sonate C-Dur 545, unter anderem die Zeit
       „als man im letzten Kriegsjahr Widerständler werden konnte“. Er war ein
       sensibler Beobachter und sah zu, wie alte Nazis wieder Richter wurden oder
       in der Verwaltung arbeiteten. Diese Form der Ironie des Lebens und des
       Schicksals war es, die ihm immer wieder ins Auge fiel. Die Gewalt im
       Kleinen, die er überall gesehen hat, war gleichzeitig eine Triebfeder
       seiner Kreativität.
       
       ## Die Nazis beendeten Kreislers Kindheit
       
       Im Alter von 16 Jahren nahm Kreislers Kindheit ein jähes Ende und er sein
       Leben selbst in die Hand. Nur kurze Zeit nach dem Anschluss Österreichs an
       Nazideutschland verließen Georg Kreisler und seine Familie am 21. Oktober
       1938 Deutschland. Ihr Ziel war Hollywood, ganz wie der Drehbuchregisseur
       Billy Wilder einmal gesagt haben soll: „Die Optimisten endeten in
       Auschwitz, die Pessimisten in Beverly Hills.“
       
       Eigentlich war Georg Kreisler sein ganzes Leben lang auf der Flucht. Aus
       Hollywood flüchtete er nach New York, aus New York zurück nach Wien, aus
       Wien flüchtete er nach München, von dort aus nach Berlin und wieder nach
       Salzburg, in die Schweiz und wieder zurück. Die einzige Flucht, die ihm
       geglückt war, war die Flucht in die Kunst. War die Kunst seine Heimat?
       
       Die Kreislers jedenfalls kamen bei ihrer Flucht 1938 von der Hölle ins
       Paradies. „Wir wurden nicht mehr gelebt, sondern lebten, waren Menschen
       geworden statt Soldaten, hatten Hitler-Deutschland, Hitler-Judenhass,
       Hitler-Disziplin, Hitler-Wien, Hitler-Angst endlich hinter uns gelassen,
       hatten uns gehäutet, waren frei wie die Vögel am ersten Frühlingstag. So
       viel Freiheit war nicht leicht zu verstehen.“ In Hollywood nahm Georg
       Kreisler Musikunterricht, lernte dirigieren und unterrichtete. Aus dieser
       Zeit gibt es ein Empfehlungsschreiben von Arnold Schönberg, dem
       Musikrevolutionär und Erfinder der Zwölftonmusik, der von Kreislers
       Talent, obwohl dieser nicht übte, überzeugt war.
       
       Kreisler bekam erste Einblicke in das Showbusiness, arbeitete für Friedrich
       Hollaender, dessen Tochter er 1941, mit 19 Jahren, heiratete und mit der er
       einen Sohn bekam. (Diese Ehe endete in einem Desaster, wie auch seine
       zweite und seine dritte.) Bald verdiente er mehr, als seine Familie zum
       Überleben brauchte. Er dirigierte gerade einen Auftritt, als plötzlich alle
       Lichter angingen im Konzertsaal. Die Japaner hatten Pearl Harbor
       angegriffen. Das Publikum sprang auf. Kreisler hob den Taktstock und
       dirigierte die amerikanische Nationalhymne. Alle sangen begeistert mit.
       Eigentlich konnte Kreisler mit Patriotismus nichts anfangen. 1943 wurde er
       US-Amerikaner, kurze Zeit später wurde er von der Army eingezogen.
       
       Für die war er nach Kriegsende an Verhören beteiligt und kam so in Kontakt
       mit Spitzennazis wie Göring, Streicher oder Kaltenbrunner. Julius Streicher
       hatte man den Gürtel weggenommen, damit er sich nicht umbrachte, erinnerte
       sich Kreisler, dürr hielt Streicher seine Hose fest, damit sie ihm nicht
       runterrutschte. Hermann Göring glaubte, er könne mit den Amerikanern noch
       Geschäfte machen und gemeinsam mit ihnen gegen die Russen kämpfen.
       Kreislers Kameraden verprügelten diese alten Verbrecher, bedrohten sie,
       ließen sie hungern oder nahmen ihnen die Betten weg. Georg Kreisler befiel
       beim Anblick dieser jämmerlichen Gestalten ein Ekel.
       
       Man könnte seine Lebensgeschichte peu à peu erzählen, Schritt für Schritt,
       bis dass er am 22. November 2011, 89-jährig, [2][seinen Frieden fand]. Man
       könnte die Geschichte erzählen, wie er in der Monkey Bar in New York das
       Handwerk des Entertainers erlernte, wie er für Charlie Chaplins Film
       „Monsieur Verdoux“ die Musik einspielte, von seinen kleinen Erfolgen und
       seinen Niederschlägen, langwierigen Gerichtsprozessen, als seine Partner
       ihn um sein Werk betrügen wollten, von seinen im Chaos geendeten Ehen, bis
       er 1977 schließlich seine vierte Frau, die Sängerin und Schauspielerin
       Barbara Peters, kennenlernte, mit der er bis zu seinem Lebensende glücklich
       war, im Privaten und auch auf der Bühne.
       
       Doch ein Mensch ist nicht nur die Summe seiner Erlebnisse und Taten, ein
       Mensch ist vor allem auch die Art und Weise seiner Gedanken. Die drücken
       sich bei Kreisler am besten in seinen Texten, in seinen Kompositionen,
       seinen Schöpfungen aus.
       
       ## Übers Tauben vergiften im Park
       
       Um sein bekanntestes Werk zu nehmen, [3][„Tauben vergiften im Park“], das
       er singt, anstatt zu sprechen, macht einen großen Teil des Erfolgs aus.
       Würden die Worte gesprochen, könnten sie befremden. „Aber singen darf man
       sie, zu einer lustigen Melodie. Gesungene Sprache ist besser verdaulich,
       ich habe es mir leicht gemacht“, schreibt er in seiner [4][Autobiografie
       „Letzte Lieder“]. Er habe in dem Lied das Töten von harmlosen Tieren zu
       einer heiteren Walzermelodie als nicht nur nützlichen, sondern auch
       vergnüglichen Zeitvertreib beschrieben. „Man könnte es fast als eine
       Verniedlichung von Auschwitz betrachten, wo das Töten von Menschen auch als
       nützlich und vergnüglich begriffen wurde“, schreibt Kreisler. Es befremdete
       trotzdem. In österreichischen Rundfunk wurde das Lied eine Zeit lang nicht
       gespielt.
       
       Was bedeutet die Wirklichkeit für jemanden, der als Träumer auf die Welt
       gekommen ist? Die Struktur von Kreislers Gedanken erinnert an Robert Musil,
       der schrieb: „Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, dann muss es auch einen
       Möglichkeitssinn geben.“ Doch anders als Musil begegnet Kreisler der Welt
       nicht abgeklärt, sondern sie betrübt ihn. Sein Lied „Noch einmal von vorn“
       ist nur eins der vielen Zeugnisse davon: „Die heilige Kuh, die darf bei uns
       nicht fliegen, die muss mit allen Beinen fest im Grase steh’n. Denn was nur
       fliegt, hat kein Gewicht, egal ob’s schön ist oder nicht, man muss Punkt
       sieben Uhr zur Arbeit geh’n.“
       
       Natürlich kann eine Kuh nicht fliegen. Aber das Träumen davon hat Georg
       Kreisler gerettet, vor den Nazis, vor dem Showbusiness und vor dem System,
       in das er sich reingepresst fühlte; in das er nicht reinpasste.
       
       ## Mit Gottes Hilfe
       
       Woher er seine Einfälle hatte, wusste Kreisler selbst nicht. Für ihn waren
       seine Lieder eine Zusammenarbeit zwischen ihm und dem lieben Gott. „Ein
       großer Teil meines Vergnügens besteht darin, dass ich zunächst nur
       aufschreibe, was mir Gott ins Ohr flüstert“, überliefern seine Biografen
       Hans-Jürgen Fink und Michael Seufert. Deren Biografie „Georg Kreisler gibt
       es gar nicht“ von 2007 ist ein großartiges Dokument, das zum Verständnis
       Kreislers beiträgt, weil er selbst an der Biografie mitgewirkt hat und den
       Journalisten in vielen Interviews seine Lebensgeschichte erzählte.
       
       Im Laufe seines Lebens schrieb Georg Kreisler etwa fünfzehn Theaterstücke,
       zwei komische Opern, drei Romane sowie fünf bis zehn andere Bücher, einige
       hundert Lieder, Sketche, Monologe, Artikel, Gedichte – was halt so anfällt.
       Er inszenierte, dirigierte, arrangierte, übersetzte, sang, schauspielerte,
       spielte Klavier in Spelunken, Opernhäusern, in Nachtlokalen, auf
       Riesenbühnen, Kabarettbühnen, Nachttheatern, Privatpartys, in Konzertsälen
       oder Wirtshäusern.
       
       „Nicht nur meine Satiren, sondern fast alles, was ich schreibe, hat mit
       Humanität zu tun, im Gegensatz zur fortschreitenden Abschaffung der
       Humanität durch Politik und die Gesetze des Marktes. Zur Humanität gehören
       Toleranz, die Rücksichtnahme und vor allem die Liebe, mit der Menschen
       miteinander umgehen.“ Am 18. Juli wäre er 100 Jahre alt geworden.
       
       18 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=AY7ldEsO-r8
   DIR [2] /Georg-Kreisler-gestorben/!5106906
   DIR [3] https://www.youtube.com/watch?v=TiH5BsVTcyg
   DIR [4] /Georg-Kreisler-liest-in-Berlin/!5153316
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Clemens Sarholz
       
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