URI: 
       # taz.de -- Musiker Gustavo Santaolalla auf Tour: Der werden, der man ist
       
       > Der argentinische Musiker Gustavo Santaolalla erhielt Oscars für
       > Soundtracks wie „Brokeback Mountain“. Jetzt ist der Außenseiter auf Tour.
       
   IMG Bild: Der Musiker Gustavo Santaolalla spielt Gitarre, erprobt aber gern auch neue Instrumente
       
       „Schwimmabzeichen“. An das Wort erinnert sich Gustavo Santaolalla noch gut,
       auch mehr als ein halbes Jahrhundert später. Der argentinische Musiker und
       zweifache Oscar-Preisträger, der am Samstag im Rahmen einer kleinen
       Deutschlandtour für ein Konzert nach Berlin kommt, muss das beim Gespräch
       gleich loswerden. 1951 in El Palomar, einer von deutschen Auswanderern
       gegründeten Gartenstadt in der Nähe von Buenos Aires geboren, ging er dort
       auf ein deutschsprachiges Gymnasium.
       
       „Ich verstehe noch ein bisschen“, sagt er und betont, wie sehr er sich auf
       Berlin freue. „Ich habe eine Schwäche für die Stadt, träume davon, einmal
       ein Album hier aufzunehmen“.
       
       Die 70 Jahre sind ihm, abgesehen vom grauen Rauschebart, den er sich hat
       wachsen lassen, kaum anzumerken. Voller Energie und Enthusiasmus redet er
       von seinem Konzertprogramm, bei dem er unter dem Titel „Desandando el
       camino“, den Weg zurückgehen, eine Zeitreise durch sein eklektisches
       musikalisches Schaffen antritt. Und das hat es in sich, von Anfängen mit
       seiner ersten Rockband Arco Iris, seinen zahlreichen Filmsoundtracks und
       vier Soloalben bis zum aktuellen Projekt Bajofondo.
       
       „Ich bin eigentlich jemand, der immer nach vorne schaut“, sagt Santaolalla.
       „Ich bringe mich gern in Situationen, die mich herausfordern, nichts
       schlimmer als in der Komfortzone zu verharren.“ Allein als Produzent hat er
       mehr als 100 Alben gemacht, mit einer Bandbreite, die von der mexikanischen
       Crossover-Band Molotov bis zum klassischen Kronos Quartett, von Psychedelic
       über Folk bis Electro reicht. Nur zur Ruhe ist er nie gekommen.
       
       „Bis vor einigen Jahren. Aus mehreren Gründen, auch weil ich Großvater
       wurde, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben die Pausetaste gedrückt. Ich
       begann zurückzublicken, mein Leben durch meine Musik und meine Songs zu
       analysieren. Und daraus wurde die Show, von Songs, die ich mit 17
       geschrieben habe, bis zu ganz neuem Material.“
       
       Live wolle er mit den Musikern des Ensembles Santabanda „sehr respektvoll“
       mit den Originalarrangements umgehen, „wir werden sie im Großen und Ganzen
       so präsentieren, wie ich sie damals aufgenommen habe“. Vieles habe er lange
       nicht gehört, und er sei überrascht gewesen, wie zeitlos die alten
       Aufnahmen klingen.
       
       Beim Innehalten habe er entdeckt, „dass ich mich entwickelt habe, dass ich
       viele Abzweigungen genommen habe und unterschiedlichste Felder betreten,
       aber ich bin immer derselbe Typ geblieben. Ich glaube, dass wir uns
       verändern, um die zu werden, die wir schon immer waren.“
       
       Das ziehe sich wie ein roter Faden durch sein Werk. „Mein erstes Album mit
       Arco Iris, damals war ich 18, in Mono auf einem Vierspurrekorder
       aufgenommen, ist die Blaupause von allem, was danach kam.“
       
       Für den 70-Jährigen ist das Leben ohnehin „nicht eine Aneinanderreihung von
       Phasen, aus denen man heraus in die nächste wechselt. Ich habe keine
       ‚Jugendsünden‘, von denen ich mich distanzieren müsste. Für mich besteht
       das Leben aus Momenten, die aufeinander aufbauen und neue Schichten
       hinzufügen, ohne das davor zu verlieren. Ich trage noch immer den kleinen
       Jungen in mir, und den 30-Jährigen, sie sind alle Teil von mir.“
       
       ## Er liebt gefährliche Situationen
       
       Als Musiker spielt er meist Gitarre und die mit fünf Doppelsaiten bespannte
       südamerikanische Ronroco, aber er probiert auch mit Begeisterung Neues aus.
       
       „Ich liebe es, Instrumente zu spielen, die ich nicht kenne und nicht
       beherrsche. Weil es mich in gefährliche Situationen bringt, das versetzt
       mich in eine Art Rausch. Und es zwingt mich zugleich zu einem gewissen
       Minimalismus und Momenten der Stille. Ein unbekanntes Instrument zu
       entdecken und auszuprobieren, hat etwas Kindliches, Verspieltes, das ich
       sehr mag. Im Deutschen heißt es ja sogar ‚ein Instrument spielen‘, das hat
       mir immer sehr gefallen.“
       
       Wie bei dem auf drei Kontinenten angesiedelten Film „Babel“ des
       [1][mexikanischen Regisseurs Alejandro González Iñárritu], für den
       Santaolalla die Musik komponieren sollte und dafür ein Instrument suchte,
       das ihn „wie ein Freund begleiten und alles verbinden könnte“. Er fand es
       in der arabischen Oud, eine sehr schwer zu spielende Laute, die er sich wie
       unvertrautes Gerät langsam aneignete.
       
       Mit Dilettantismus hat es nichts zu tun, diese Offenheit ist künstlerisches
       Prinzip, die ihm im Fall von „Babel“ 2007 seinen zweiten Oscar für die
       beste Filmmusik brachte. Den ersten erhielt er im Jahr zuvor für [2][Ang
       Lees] queeren Western „Brokeback Mountain“.
       
       Zum Hollywoodsystem gehöre er trotzdem nicht, sagt Santaolalla. „Ich gelte
       als sonderbar, stehe am Rand, genauso wie in der Plattenindustrie oder
       der Game-Branche. Heute ist ‚Brokeback Mountain‘ ein Klassiker, aber das
       Projekt wollte zehn Jahre niemand anfassen. Ich gehe gern diesen schmalen
       Grat.“
       
       ## Flucht vor der Militärjunta in die USA
       
       Sein Talent hat er früh entdeckt, mit fünf Jahren hatte er zum ersten Mal
       eine Gitarre in der Hand.
       
       „Als Kind wollte ich Priester werden, aber mit elf geriet ich in einen
       Glaubenskonflikt mit der Kirche und trat aus. Aber meine Suche ging weiter,
       ich spürte eine enge Verbindung zwischen Musik und Spiritualität. Etwa zur
       gleichen Zeit warf meine Gitarrenlehrerin das Handtuch, weil ich großes
       Talent hatte, aber einfach keine Noten lernen wollte. Sie ging zu meiner
       Mutter und sagte: ‚Sein Ohr ist stärker als meine Musik.‘ Sie gab einfach
       auf. Zum Glück unterstützten mich meine Eltern. Mein Vater sagte mir immer:
       ‚Tue nichts, was dich nicht glücklich macht.‘ “
       
       Santaolalla verließ Argentinien 1978 zur Zeit der Militärjunta, „ich war
       bereits unzählige Male verhaftet worden, einfach nur, weil ich lange Haare
       hatte und in einer Rockband spielte. Ich nahm keine Drogen, gehörte zu
       keiner politischen Partei. Sie konnten mich nie lange festhalten, sie
       wollten einem nur das Leben schwermachen. Aber ich kannte Menschen, die
       stärker verfolgt wurden oder ganz verschwunden sind. Noch zwei Jahre nach
       meiner Ankunft in den Vereinigten Staaten hatte ich Albträume von der
       Polizei.“
       
       ## US-Rock mit folkloristischen Elementen aus Lateinamerika
       
       Als Produzent hat er seitdem für spanischsprachige Rockmusik vermutlich
       mehr als jeder andere getan, einiges davon wird auch live zu hören sein.
       „Ich habe mich sehr früh dafür eingesetzt, nicht nur auf Spanisch zu
       singen, sondern auch zu spielen“, erinnert sich Santaolalla. Schon in den
       1980ern verband er US-Rock mit folkloristischen Elementen und Instrumenten
       aus Lateinamerika. „Dafür wurde ich anfangs hart angegriffen“, sagt er und
       grinst. „Aber die Zeit hat mir recht gegeben.“
       
       Ein unabhängiger Geist ist er geblieben, rastlos zwischen Ländern, Branchen
       und musikalischen Stilen. „Ich bin überall ein Außenseiter, das weiß jeder
       und das gibt mir gewisse Vorteile, aber auch Nachteile. Es ist
       unvermeidbar, ich funktioniere nicht am Fließband. Lieber arbeite ich mit
       Künstlern, die ihren eigenen Kopf haben, von denen ich etwas lernen kann.
       So habe ich über 100 Alben produziert, und es gibt nicht eins, das ich
       verstecken müsste.“
       
       Den Kontakt zur alten Heimat hat er immer gehalten, heute pendelt er
       zwischen beiden Ländern. In Argentinien hat er einen Verlag und ein kleines
       Weingut, ist Teil des kulturellen Lebens. „Meine Identität ist durch meine
       Erfahrungen im Ausland nur reicher geworden, ich sehe mich als Amerikaner
       im wahrsten Sinne. Amerika als zwei Kontinente, nicht eine Nation.“
       
       Mit seiner Musik präsentiere er andere Facetten der Realität, sagt
       Santaolalla am Ende. Damit bringe er Menschen im besten Fall dazu, ihren
       Blick auf die Welt zu hinterfragen. „Oder einfach nur eine Weile ihre
       Sorgen zu vergessen und ihre Körper tanzen zu lassen.“
       
       16 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Komoedie-Birdman-im-Kino/!5022281
   DIR [2] /Neuer-Film-von-Ang-Lee/!5628009
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Abeltshauser
       
       ## TAGS
       
   DIR Konzert
   DIR Filmmusik
   DIR Argentinien
   DIR Oscars
   DIR Militärdiktatur
   DIR Argentinien
   DIR Musik
   DIR Kinostart
   DIR Kino
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Argentinische Rockband Reynols: Der spitze Schrei von Villa 31
       
       Selten gehörte Freiheit zwischen Luxusimmobilie und Slum-Wolkenkratzer: Die
       Band Reynols lebt auch von ihrem unzähmbaren Größenwahn.
       
   DIR Remastertes Album von Juana Molina: Zeitreise mit Drossel
       
       Die argentinische Musikerin Juana Molina hat ein zwanzig Jahre altes Album
       remastert: Beim Hören eröffnen sich immer wieder neue Schichten.
       
   DIR Neuer Film von Ang Lee: Schwierige Abschüsse
       
       Ang Lees „Gemini Man“ über einen Auftragskiller und dessen Klon wird wegen
       der „3D+“-Bildtechnik als Sensation angepriesen. Ist er das auch?
       
   DIR Komödie „Birdman“ im Kino: Schauspieler bei der Arbeit
       
       Tragikomische Logik und rasanter Slapstick von Alejandro González Iñárritu:
       „Birdman oder Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit“.