URI: 
       # taz.de -- Debütroman über häusliche Gewalt: Abgründe aus gutem Hause
       
       > In „Liebe ist gewaltig“ erzählt Claudia Schumacher von häuslicher Gewalt.
       > Der Debütroman mündet in einen Ausbruch aus dem Familiengefängnis.
       
   IMG Bild: Selbstmordtagebuch mit Diddle-Einband: Claudia Schumacher
       
       Auch im Sommer trägt die Mutter Rollkragen, „als wäre es ein Modeding“ und
       sie einfach exzentrisch. Die Wahrheit ist aber eine andere in Claudia
       Schumachers Debütroman. „Liebe ist gewaltig“ – der Titel gibt einen ersten
       Hinweis, und der ist alles andere als romantisch. Denn was Schumacher hier
       auf knapp 370 Seiten verhandelt, ist brutal und herzzerreißend.
       
       Im Zentrum des Romans steht die Icherzählerin Juli, aufgewachsen im
       fiktiven Stuttgarter Vorort Ederfingen. Anfangs 17-jährig ist sie
       Musterschülerin, Rechengenie und jüngstes Kind der Familie Ehre: nach außen
       eine Vorzeigefamilie aus dem Segment obere Mittelschicht, vier Kinder –
       zwei Jungs, zwei Mädchen –, Gutverdienereltern.
       
       Und doch unterscheiden sich die Ehres von anderen Familien, denn ihr
       Oberhaupt ist ein Tyrann. Kurt Ehre – der Nachname ist Programm. Wer diesen
       herrschsüchtigen Patriarchen nicht ehrt, bekommt einen Schlag „in die
       Fresse“ oder unterhalb des Halses, damit die Nachbarn nicht sehen, dass der
       feine Herr Rechtsanwalt seine Lieben prügelt. Erwischt er doch mal das
       Gesicht, ist da immer noch Julis Onkel Günther, Arzt und Kurts Bruder, der
       Wunden versorgt, mit Krankschreibungen und Pillen aushilft und sich vor
       allem dem Schweigen verpflichtet.
       
       Kurt hat sein Umfeld gut unter Kontrolle, allen voran Julis Mutter. Oft
       überdreht und emotional, dann wieder fürsorglich, aber nie so sehr, dass
       sie das Wohl der Kinder und ihr eigenes über die Launen des Vaters stellen
       würde, ist sie in Julis Augen ein „Hitmix aus Scarlett O’Hara und der
       Pietà“.
       
       Sie fungiert als „Tatortreinigerin“, wenn es mal wieder Blut auf den
       Teppich regnet, und als „Menschenfängerin“ immer dann, wenn es darum geht,
       eines der sich zeitweise emanzipierenden Kinder davon abzuhalten, zum
       Jugendamt zu gehen. Interveniert wird mit Shoppingtouren oder Alkohol; bei
       Familie Ehre trinkt generell [1][„ab 19 Uhr keiner mehr Wasser“.]
       
       ## Ein sadistischer Narzisst
       
       Dass das Aufwachsen in dieser Familie seine Spuren hinterlässt, skizziert
       Schumacher eindrücklich in insgesamt drei Abschnitten, die 2007, 2014 und
       2016 spielen. Anfangs noch Jugendliche, ist Juli quasi in diesem Höllenhaus
       gefangen, das ihr Zuhause ist. Eingesperrt mit einem „sadistischen
       Narzisst[en], der Leistung einfordert, aber erbringst du sie, wird er
       wütend und stellt dir ein Bein“.
       
       Wie sich dieser Balanceakt auswirkt, wird gleich zu Beginn deutlich. Da
       befindet sich Juli in einer Rehaklinik, um sich, wie sie es in ihrer
       lapidaren Art formuliert, von ihrer „generellen Unentschiedenheit, was das
       Weiterleben betrifft“, zu erholen. Eine Kurklinik ist es, wo sie ihre Tage
       mit alten Menschen wie „Brustkrebs-Berta“ und der dementen „Magic Margot“
       verbringt, statt wie eigentlich nötig in einer psychiatrischen Klinik
       behandelt zu werden.
       
       Denn nicht erst nachdem sie sich die Pulsadern aufschneidet, ist Julis
       Psyche angeknackst. Zeugnis dafür ist das „Selbstmordtagebuch“ mit dem
       Diddle-Einband, das sie mit zwölf Jahren beginnt. Doch in adäquater
       Behandlung bestünde die Gefahr der Aufarbeitung des häuslichen Terrors –
       und so landet Juli in „Rollator City“.
       
       ## Liebe und Hass nah beieinander
       
       Wie können Liebe und Hass so nah beieinanderliegen? Das ist die Frage, die
       sich Claudia Schumacher laut eigener Aussage in Vorbereitung auf ihr Debüt
       stellte. Geboren 1986 in Tübingen, studierte die Autorin
       Literaturwissenschaft, Amerikanistik und Kunstgeschichte an der Freien
       Universität Berlin, wo sie 2008 das Campusmagazin Furios mitgründete. 2012
       zog sie in die Schweiz, um bei der NZZ am Sonntag als
       Gesellschaftsredakteurin zu arbeiten.
       
       Dass sie sich gesellschaftlich gut auskennt, merkt man ihrem Roman an:
       Messerscharf skizziert sie die Abgründe der Familie Ehre. Dabei steht diese
       natürlich nur exemplarisch für ein Phänomen, das auch hierzulande noch viel
       zu weit verbreitet ist. Laut Angaben des Weißen Rings nahmen Fälle
       häuslicher Gewalt in den vergangenen Jahren [2][besonders während der
       Pandemie] um mindestens zehn Prozent zu.
       
       Juli gelingt wenigstens geografisch der Ausbruch aus dem heimatlichen
       Gefängnis. 2014 lebt sie in Berlin, studiert Mathematik und verdient
       nebenbei ihr Geld als Profigamerin. Selbsthass und die Unfähigkeit, über
       ihr traumatisches Aufwachsen zu sprechen, torpedieren ihr Glück mit der
       faszinierenden Sanyu, treiben Juli Richtung Alkohol und Drogen und
       schließlich in Thilos Arme.
       
       ## Raubtier und Beute
       
       Dieser ist zwar kein Ebenbild von Vater Ehre, von diesem aber fasziniert
       und ähnlich talentiert darin, Frauen kleinzumachen. 2016 ist es da bereits
       und Juli, nun Julia genannt, droht zum Abziehbild der eigenen Mutter zu
       werden.
       
       Erst kennt man sich nicht aus in diesem letzten Kapitel, wechselt doch
       plötzlich die Erzählstimme in die dritte Person und folgt zunächst Thilo,
       der Juli(a) fängt wie ein Raubtier seine Beute: aus rein egoistischen
       Gründen, um seinen Hunger zu stillen. Der Kniff ist interessant,
       verdeutlicht er doch, wie weit sich die Protagonistin von sich selbst
       entfernt hat, ja, wie ihr Zustand fast einer Dissoziation gleichkommt.
       
       Nicht ganz ausgreift ist dieser letzte Teil, wirkt etwas zu verkürzt und
       dadurch schablonenhaft. Auffallen tut das aber nur, weil die
       vorangegangenen Kapitel derart eindrücklich sind.
       
       15 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Alkoholkonsum-in-Deutschland/!5855030
   DIR [2] /Gewalt-gegen-Frauen-in-der-Pandemie/!5817391
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sophia Zessnik
       
       ## TAGS
       
   DIR Literatur
   DIR häusliche Gewalt
   DIR Familie
   DIR Herkunft
   DIR Roman
   DIR Mutter-Tochter-Beziehung
   DIR Ratgeber
   DIR Literatur
   DIR Gewalt gegen Frauen
   DIR Frankfurt
   DIR Buch
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Roman „Siegfried“ von Antonia Baum: Täterin, Gefühlstaube, Enkelin
       
       Der Roman „Siegfried“ von Antonia Baum folgt drei deutschen
       Frauengenerationen. Gespiegelt sind sie über einen Bauunternehmer mit
       Heldennamen.
       
   DIR Roman „Ewig Sommer“: Das Feuer rückt näher
       
       Franziska Gänslers Romandebüt „Ewig Sommer“ erzählt vor dem Hintergrund der
       Klimakrise von der folgenreichen Begegnung zweier Frauen.
       
   DIR Ratgeber zum Umgang mit der Angst: Heute üben: Angstverwandlung
       
       In ihrem Buch „Sei stärker als die Angst“ arbeitet die Autorin Sabrina
       Fleisch mit positiven Bildern gegen die Angst – und greift dabei etwas zu
       kurz.
       
   DIR Neues Vaterbuch von Andreas Schäfer: Mal wattig, mal stacheldrahtig
       
       Schriftsteller Andreas Schäfer erinnert sich an seinen verstorbenen Vater.
       Dabei will „Die Schuhe meines Vaters“ kein Familienroman sein. Gelingt das?
       
   DIR Gewalt gegen Frauen: Wieder mehr Hilferufe
       
       Die Anzahl der Beratungen zum Thema häusliche Gewalt sind gestiegen. Das
       zeigt der aktuelle Jahresbericht des „Hilfetelefons Gewalt gegen Frauen“.
       
   DIR Spanien bei der Frankfurter Buchmesse: Die Tradition neu erfinden
       
       Männer, die sich als Autorinnen ausgeben, und Autor:innen, die viel zu
       sagen haben. Die spanische Literatur ist deutlich in Bewegung geraten.
       
   DIR Debütroman von Sophia Fritz: Rutschige Träume
       
       „Steine schmeißen“ porträtiert gelungen die Generation Z. Auf- und
       abgeklärte junge Menschen, die sich ständig mit ihren Gefühlen
       auseinandersetzen.