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       # taz.de -- Buch über Filmemacher Hellmuth Costard: Anarchist, Poet und Denker
       
       > Verwirrend zwar, aber auch inspirierend ist der Nachlass des Filmemachers
       > Hellmuth Costard. Er ist jetzt in einem Buch festgehalten und zu
       > studieren.
       
   IMG Bild: Porträt Hellmuth Costard
       
       „Ich muss irgendwo meine Tasche vergessen haben, vielleicht im Zug.“ So
       lautet der Schlusssatz von Ole Blaum (Klaus Wyborny) in Hellmuth Costards
       von der Nouvelle Vague inspiriertem Film „Klammer auf, Klammer zu“ (1966,
       Ton: Holger Meins). Der Film beginnt an der Bar einer Bowlingbahn. Die
       Personen wirken in ihrer zeitgenössischen Aufmachung und Umgebung heute
       fast wie Barbie-Puppen.
       
       [1][Lars Henrik Gass, der Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen], hat sich 55
       Jahre später auf die Suche gemacht und hat die Tasche gefunden – nicht im
       Zug, sondern in Costards Nachlass und in privaten Archiven. Ihr Inhalt:
       (überwiegend) unveröffentlichte Briefe, Exposés, Konzepte, Projektskizzen,
       Fotos und Zeichnungen. Zusammengeführt sind sie (mit Aktionen verbundene)
       Reaktionen auf gesellschaftliche Verhältnisse, kurz die Moderne.
       
       Die ist für Costard gekennzeichnet durch eine allseitige Entfremdung, die
       es jenseits von Kunst und Künstlertum unter anderem mit selbst entwickelten
       Produktionsmitteln zu überwinden gilt: „Mein Interesse ist es, eine
       Architektur oder ein Gewebe von Wirklichkeit zu zeigen, bei denen den
       Dingen ihre eigene Wertigkeit zugestanden wird. […] Das ist für mich die
       einzige Möglichkeit, nicht destruktiv zu arbeiten in dieser
       Wegwerfgesellschaft, Aufnahmen nicht meinem Gestaltungswillen zu
       unterwerfen.“
       
       Die über 100 sprachlichen und visuellen Artefakte aus Costards kreativer
       (Gedanken-)Werkstatt stellen in der Nahsicht eine in ihrer Vielfalt und
       Diversität verwirrende Fundgrube dar. In ihr würde ich als Leser
       unweigerlich versinken, wenn der Herausgeber mit seinem einführenden Essay
       und seinen konzisen Kapiteleinleitungen (die von „Filmpolitik“, „Super 8“
       bis zu „Technik und Bildung“ und „Sunmachine“ reichen) mir nicht Halt und
       Übersicht geben würde: „Costards (Kurzfilm, die Red.) „Besonders wertvoll“
       etwa ist im Grunde eher eine situationistische Aktion als ein Film, […] ein
       gezielter Angriff zur Veränderung der Verhältnisse, ein Faustschlag gegen
       die Wirklichkeit, das Filmfördersystem. […] Ein solcher Film will wirken,
       nicht gefallen und auch nicht überdauern.“
       
       Dessen Wirkung war immens und führte 1968 fast zum Abbruch des
       Kurzfilmfestivals in Oberhausen: „Der Film mit dem sprechenden und
       ejakulierenden Penis ist bis heute der schärfste Angriff auf das deutsche
       Fördersystem geblieben.“
       
       ## Ein Pionier als Künstler und Erfinder
       
       Wie der britische Filmemacher [2][Humphrey Jennings] war auch Hellmuth
       Costard „a man of many parts“: ein Ingenieur, Filmemacher, Anarchist,
       Menschenfreund, Poet und Denker. Der entwarf nicht nur Modelle für
       gesellschaftliche Emanzipation, sondern auch Modelle für die praktische
       Anwendung: eine Super-8-Mehrkameratechnik mit Synchronton für
       dokumentarische Aufnahmen oder ein mit recycelten Getränkedosen
       stabilisiertes Spiegelkraftwerk, die „Sunmachine“, die auch von einfachen
       Schlosserwerkstätten in Entwicklungsländern nachgebaut werden konnte.
       
       Bis an den Rand der Selbstaufgabe schrieb Costard Briefe, in denen er um
       Unterstützung für seine Filme, seine didaktischen und ökologischen Projekte
       warb. Bei der Mehrkameratechnik und der „Sunmachine“ war es ein Wettlauf
       mit der Zeit, weil andere Erfinder ganz andere Ressourcen zur Verfügung
       hatten als er, und weil die Digitaltechnik und die Photovoltaik – wie von
       ihm vorausgesehen – seine Entwicklungen, die ihn allzu viele Jahre
       kosteten, überholen würden. Vor allem aber war Costard ein Pionier als
       Künstler und als politischer Mensch.
       
       Ich habe die Jahre nachgezählt: Sein Film von 1969 „Die Unterdrückung der
       Frau ist vor allem am Verhalten der Frauen selber zu erkennen“ (der triste
       Hausfrauenarbeit zeigt, dargestellt von einem Mann) entstand sechs Jahre
       vor [3][Chantal Akermans] feministischem Meilenstein „Jeanne Dielman, 23
       quai du Commerce, 1080 Bruxelles“.
       
       Und das Remake „Zidane – A 21st Century Portrait“ (2006) von Philippe
       Parreno und Douglas Gordon entstand 35 Jahre nach Costards Film „Fußball
       wie noch nie“, in dem er sechs 16-mm-Kameras 90 Minuten lang ausschließlich
       auf den Manchester-United-Spieler George Best richtete. Um das Projekt mit
       Best klar zu machen, fuhr Costard damals nach Manchester und verabredete
       sich mit dem trinkfesten Popstar im Hotel King George: „Als er kam, hatte
       ich für uns beide schon eine große Kanne Schokolade bestellt. Es war seine
       erste Schokolade seit 30 Jahren, sagte er mir. Es war wirklich ein gutes
       Hotel.“
       
       20 Jul 2022
       
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